Drei grosse Themen befeuern in Prousts Roman die verdeckten und die offenen Auseinandersetzungen, in die alle Personen und gesellschaftlichen Schichten verwickelt sind: erstens die Dreyfus-Affäre, welche in den letzten Jahren des 19. Jahrhunderts die Nation bis in einzelne Familien hinein unversöhnlich spaltete; zweitens die tief verwurzelte Judenfeindschaft; drittens die rigorose Tabuisierung der Homosexualität. – Proust selber war Halbjude, homosexuell und Parteigänger des zu Unrecht verurteilten Hauptmanns Dreyfus.
Juden zwischen Aristokratie und Bürgertum
Die breite Gegnerschaft zu Dreyfus war nicht zuletzt antisemitisch motiviert. In der Figur des Charles Swann überlagern sich die beiden Konfliktfelder. Er zeigt sich als Dreyfusard, und im Zuge dessen bekommt auch der Umstand Bedeutung, dass er Jude ist. Mit dieser Romanfigur hat Proust die Lage der assimilierten Juden ins Licht gerückt. Sie konnten wie Swann Karriere machen, in die oberste Schicht des Bürgertums aufsteigen, ja selbst Zugang zu den Salons der Aristokraten finden. Und trotzdem waren sie gesellschaftlicher Diskriminierung ausgesetzt.
Hannah Arendt hat den jüdischen Romangestalten Prousts im Rahmen ihres epochalen Werks «Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft» eine Untersuchung gewidmet. Deren These geht dahin, die Assimilierung der französischen Juden in die historisch siegreiche bürgerliche Gesellschaft des 18. und 19. Jahrhunderts sei nie ganz gelungen. Dafür aber seien Juden in der nach der Revolution politisch ausrangierten Aristokratie willkommen gewesen, und zwar gerade weil sie in der bürgerlichen Welt nicht erwünscht waren. Der Feind des Feindes wurde den Aristokraten zum Freund. Diese verquere Akzeptanz hätten die Juden bezahlt mit dem Effekt, dass Jüdischsein in der Sicht ihrer Fürsprecher nicht als Zugehörigkeit zu einer der vorhandenen Religionen, sondern als wesenhafte Andersartigkeit, als unauslöschliche Exotik verstanden wurde. Die Aristokratie gefiel sich in ihrer Toleranz gegenüber den vermeintlich so andersartigen Juden.
Skandalisierte Homosexualität
So wie Swann ein prekäres Wohlwollen seitens der Guermantes und anderer Aristokraten zuteil wird, gewinnt ein anderer überraschend Anschluss an den pseudo-vornehmen «Kleinen Kreis» der Madame Verdurin. Dieser andere ist Baron de Charlus, Bruder des Herzogs de Guermantes – und damit eigentlich für den bürgerlichen Salon Verdurin ein unerreichbar hoher Adliger.
Was die Regeln hier umdreht, ist die Homosexualität des Barons. Sein Lover ist der Geiger Morel, der von Madame Verdurin als Attraktion für ihren «Kleinen Kreis» geschätzt ist. Dadurch wird für den Baron der weit unter seiner Würde rangierende Salon zum Anziehungspunkt, und die tüchtige Madame bekommt die Chance, einen richtig Vornehmen in die Schar ihrer Getreuen einzugliedern. Dass er homosexuell ist, steigert seinen Exotenwert – ganz ähnlich wie Swann als Jude für den Adel an Attraktivität gewinnt.
Im Band «Sodom und Gomorrha» steht das Thema der Homosexualität parallel zu dem des Judentums. Beides sind Attribute, die mit wahlweise rigorosen oder subtilen gesellschaftlichen Ausschliessungen verbunden sind. Mit seiner Parteinahme für Dreyfus fällt Swann zunehmend aus dem Konsensrahmen der Aristokratie, wobei das Verdikt dem nationalistischen Furor der Dreyfus-Verurteiler geschuldet ist und nicht primär einer antijüdischen Einstellung. Allerdings gilt in ihrer Sicht der Landesverrat, der Dreyfus – zu Unrecht – unterstellt wird, dann doch als «typisch jüdisch».
Der mittlerweile todkranke Swann schert sich nicht mehr um seine Reputation und führt eine Existenz am Abgrund. In anderer Weise ist das auch bei Charlus der Fall. Als Schwuler ist er trotz hochadligem Rang äusserst angreifbar und in permanenter Absturzgefahr. Die Blossstellung droht ihm umso mehr, da er an einen charakterlosen Kerl geraten ist: Morel nutzt jede Gelegenheit, Charlus auszunehmen und zu demütigen. Die Parallelen zur Mésaillance Swann-Odette liegen klar zutage.
Doch dem Leser wird jedes Mitleid mit dem Gepeinigten ausgetrieben. Charlus massregelt mit einem langen Brief den Oberkellner Aimé, da dieser die Frechheit hatte, auf seiner dienstfreien Zeit zu bestehen. Das Schreiben des Barons ist in seiner moralisierenden, herablassenden und pompösen Gestelztheit ein Monument aristokratischen Dünkels.
Indessen steigert sich die schreckliche Affäre zwischen Charlus und Morel zur Groteske. Der Baron versucht Morel in einem Bordell auf frischer Tat bei Unzucht und Untreue zu ertappen – ein verzweifelter Plan, der in qualvoller Peinlichkeit scheitert. Dem elenden Spiel setzt Proust mit hartem Schnitt ein Ende: Lapidar verkündet der Ich-Erzähler, er sei nach langem Hin und Her, nach Nein und doch wieder Ja, nun endlich entschlossen, Albertine nicht zu heiraten.
Im Verhängnis der Beziehung
Dass dieser Entschluss Bestand haben könnte, glaubt weder der Leser noch der Protagonist. Doch erst kommt eine neue Komplikation hinzu. Der Ich-Erzähler glaubt aus der Bemerkung Albertines, sie sei mit Vinteuils Tochter befreundet gewesen, schliessen zu müssen, er habe sie einst in Combray, ohne sie damals schon zu kennen und ohne die Situation zu verstehen, im Haus Vinteuils bei lesbischen Spielen beobachtet. Das bekräftigt den Verdacht, den er aus etlichen Vorfällen und Gerüchten in Balbec geschöpft hat. Der Erzähler ist heftig aufgewühlt. Nach einer Nacht des Zweifelns und Schwankens versucht er mit einer impulsiven Wende festen Boden zu gewinnen: «Es geht nicht anders: Ich heirate Albertine.»
Der fünfte («Die Gefangene») und sechste Band («Die Entflohene«) radikalisiert das Beziehungsdrama zwischen dem Erzähler und Albertine auf brutale, schockierende Art. Die beiden wohnen in des Erzählers Elternhaus in Paris in einer Art wilden Ehe, was der Hausmagd Françoise und der in Combray weilenden Mutter tief missfällt. Für Mama wird die Sache nicht dadurch besser, dass Marcel, wie er jetzt öfters genannt wird, von Albertine als seiner Verlobten oder wenigstens vage von baldiger Verlobung spricht. Die Mutter schickt mahnende Briefe, und Françoise übt die Kunst der feinen Loyalitätsunterschiede, das Spiel des Herrschens mittels übertriebener Beflissenheit sowie die Taktik des Weghörens und Wegschauens. Mit ihrer Figur schafft Proust tiefe Einblicke ins Wesen der autoritären Gesellschaft. Unterwerfungen, zumindest in ihren zivilisierteren Formen, sind niemals völlig einseitig. Untergebene haben ihre Machtmittel, und wenn sie schlau genug sind, kommen die Herren ihnen nicht bei.
Diese unterschwellige Gegenseitigkeit besteht auch im Verhältnis zwischen Marcel und Albertine. Zerfressen vom Verdacht auf ihre lesbischen Neigungen, ist er darauf aus, Albertine lückenlos zu kontrollieren, sie – wie er es nennt – zu besitzen. Marcel, der keiner Tätigkeit nachgeht und öfters kränkelt, setzt seine ganze Energie in die Überwachung und angestrebte Überführung der Freundin. Sie wiederum entzieht sich mit einer flexiblen Taktik des Leugnens und der demonstrativen Anhänglichkeit und Unterwürfigkeit. Dabei ist dem Erzähler klar, dass sie und er sich in einem immer dichteren Geflecht von Lügen und Abhängigkeiten verfangen. Er hält sie wie eine Sklavin und macht sich dadurch zu ihrem Sklaven.
Prokrastination und Anakoluth
Mit zwei analytischen Begriffen bezeichnet Proust das Beziehungsdrama auf einer reflektierenden Ebene. Marcels Verhalten beschreibt er als Prokrastination (von lateinisch: procrastinare, vertagen), als das dauernde Hinausschieben aller Entscheidungen, das die Dinge stets in der Schwebe lässt. In Albertines Lügen- und Vertuschungstaktik wiederum sieht Proust eine Praxis des Anakoluth (von griechisch: an-akolouthos, das Nicht-Folgerichtige). Der Begriff aus der Lehre der Rhetorik und des Satzbaus meint den Bruch mitten im Gedanken und das unvermittelte Verfolgen eines anderen Fadens.
Ganz offensichtlich schiebt Proust diese Begriffe in die Erzählung ein, weil sie nicht nur das Verhalten der Romanfiguren, sondern auch sein narratives Verfahren erläutern: Der Protagonist lebt vom geerbten Vermögen, kann sich zu nichts entschliessen und schiebt seinen Plan, Schriftsteller zu werden, auf den Sankt Nimmerleinstag hinaus. Zu vielen Malen wünscht Marcel den Bruch mit Albertine herbei, er beschliesst und verkündet das unmittelbar bevorstehende Ende der Beziehung, und es geschieht – nichts. Entsprechend verweigert der Erzählduktus erwartete Konsequenzen permanent.
Die Recherche ist eine Kette, mehr noch, ein Gewebe von Prokrastinationen. Zudem lenkt der Verfasser den Erzählfluss immer wieder überraschend um. Assoziative Sprünge, die Verfolgung von Nebensträngen, das sich Festsetzen an Einzelheiten machen damit auch die Figur des Anakoluth zu einem Grundmuster Proust’scher Erzähltechnik.
Undurchsichtigkeit allen Geschehens
Auf den ersten Blick mag erstaunen, dass Proust seine Poetik auf zwei Begriffe bezieht, die im Roman deutlich negativ besetzte menschliche Verhaltensweisen bezeichnen. Doch man sollte genau hinschauen. Proust lässt immer und bis zuletzt offen, ob Albertine, wie Marcel das glaubt, tatsächlich lügt. Ebenso offen ist, ob das bis zur Peinlichkeit praktizierte Hinausschieben der Dinge jeweils tatsächlich ein Fehler war. Der Erzähler Proust lässt uns über alles Entscheidende im Ungewissen. Sein Roman ruht auf der Einsicht, die fundamentalen Unklarheiten im Blick auf ein Leben seien grundsätzlich nicht auflösbar. Prokrastination und Anakoluth bilden für Proust die Undurchdringlichkeit des Wirklichen und die chaotische Logik des Erinnerns ab. Die luzide Struktur und ausgeklügelte Mechanik seines Romans kontrastiert heftig mit der völligen Intransparenz des geschilderten Geschehens.
Die grossen Umwälzungen lässt Proust meist nebenbei oder sogar ausserhalb des erzählerischen Gesichtsfelds eintreffen. So auch Albertines Tod, von dem Marcel brieflich erfährt. Nicht nur sind damit seine Fesseln, die ihn an Albertine binden, keineswegs gelöst. Vielmehr wird seine investigative Manie durch Albertines Verschwinden paradoxerweise noch zusätzlich angestachelt. Seine Nachforschungen unterlaufen nicht nur das natürliche Abstandgewinnen, sondern überhaupt die lineare Zeitlichkeit des Erlebens, Erinnerns, Erzählens und Vergessens. Marcel wünscht, Albertine wüsste von seinen Ermittlungen – und er malt sich das in seiner Phantasie denn auch genau so aus.
Gegen zeitgeistigen Optimismus
Klarheit über Albertine bringen die Nachforschungen allerdings nicht. Marcel sendet Emissäre aus, um Fakten in die Hand zu bekommen, die er dann zu kombinieren und in allen nur möglichen Richtungen zu deuten versucht. Er analysiert systematisch seine eigenen diesbezüglichen Emotionen. Es sind die Methoden der zeitgenössischen Wissenschaften, die Proust hier parodiert. Doch in scharfem Gegensatz zum Erkenntnisoptimismus seiner Zeit bieten sie seiner Romanfigur keinerlei Evidenz. Jeder Fehlschlag treibt den Unglücklichen zwar weiter im Versuch, Klarheit zu gewinnen. Doch jede neue Tatsache zieht bloss wieder andere, für fest gehaltene, in Zweifel.
Ermüdet von dem Wechselbad legt sich Marcel schliesslich darauf fest, Albertine sei tatsächlich eine Lesbe gewesen, die ihn immer belogen habe. Seine Liebe habe darauf beruht, ihre «Verwerflichkeit» zu durchschauen und sie gerade so «besitzen» zu wollen, ja, dieser selbstzerstörerische Hang sei der Kern seiner Liebe gewesen. Sich hinterher eine schlechte Wahl vorzuwerfen, sei unsinnig, da ja schon das Faktum, eine Wahl zu treffen, das eigentliche Übel sei.
Was Proust seinen Protagonisten unternehmen und sinnieren lässt, läuft auf eine totale und grausame Demontage der Liebesthematik hinaus. Ganz passend dazu erfährt man in einer Fussnote (ein Stilmittel, das Proust mehrfach einsetzt), dass Marcel sich eine (namenlose) Geliebte in genau der Weise hält, wie er es mit Albertine gemacht hatte.