Schon Staatengründer Kim Il-sung scherte sich, wenn es denn seiner Ansicht nach um die Interessen der Demokratischen Volksrepublik Korea ging, keinen Deut um die Befindlichkeit seiner sowjetischen Ziehväter. Enkel Jong-un lässt gleicherweise China, den letzten Verbündeten, links liegen.
Der „Präsident bis in alle Ewigkeit“ hinterliess nach seinem Tode 1994 seinem Sohn, dem „Geliebten Führer“ Kim Jong-il, diese für Nordkorea erfolgreiche Strategie der Realpolitik. In Verhandlungen mit den Grossmächten in Ost und West versprach er alles, hielt nichts und bekam dafür Zugeständnisse. 2006 liess er dann zum Erstaunen der Weltöffentlichkeit die erste unterirdische Atombombe testen. Es hagelte Proteste aus den USA, Japan, Südkorea, ja gar aus China.
Peking rief händeringend zur Fortsetzung der 2003 begonnen Pekinger Sechser-Gespräche und zur Denuklearisierung der koreanischen Halbinsel auf. Nur diplomatische Gespräche könnten das Problem lösen und keinesfalls Provokationen von welcher Seite auch immer. Das nordkoreanische Atomprogramm jedenfalls sollte seit Beginn des Jahrhunderts in Peking diplomatisch entschärft werden. Kim Jong-il versprach nochmals alles, hielt nichts und liess es 2009 nochmals knallen.
In Schutt und Asche
Nach seinem Tod 2011 setzte der knapp 30-jährige Sohn Kim Jong-un diese Atom-Politik ungerührt fort. Nordkorea, liess Kim die Welt wissen, fühle sich von den atomar bewaffneten „amerikanischen Imperialisten“ und deren „südkoreanischen Marionetten“ bedroht. Nordkoreas Propaganda drohte wiederholt, Südkoreas Hauptstadt Seoul „in Schutt und Asche zu bomben“. Auch Teile der USA wollte der nordkoreanische „Junge General“ in einem „Feuersturm“ vernichten.
Den Worten folgten Test-Taten. 2013 liess Kim, wie immer auf dem nur hundert Kilometer von der chinesischen Grenze entfernten Testgelände Pyunggye-Ri, eine A-Bombe zünden. Zwei neue A-Kracher folgten im laufenden Jahr im Januar und im September. Parallel dazu wurden unzählige Raketen getestet. Nordkorea bezeichnet sich als Atom-Staat. Ob das wirklich zutrifft, darüber streiten die Experten, zumal über die Frage, ob Nordkoreas Raketentechnik bereits so ausgereift sei, dass Atomsprengköpfe über weite Distanzen akkurat ins Ziel gebracht werden könnten.
Ernsthafte Konsequenzen
Die internationale Gemeinschaft reagierte wie immer empört. US-Präsident Obama warnte vor „ernsthaften Konsequenzen“, Südkoreas Präsidentin Park Geun-Hye bezichtigte Kim Jong-un einer „wahnsinnigen Rücksichtslosigkeit“, Japans Premier Shinzo Abe sagte, „solche Tests können nicht toleriert werden“, und Chinas Aussenministerium teilte mit, dass „trotz breitem internationalen Widerspruch erneut ein Atomtest ausgeführt worden ist – die chinesische Regierung lehnt dies entschieden ab“.
Der Uno-Sicherheitsrat wird wohl bald neue, noch schärfere Sanktionen ergreifen. Doch Nordkorea wird sich, wie die jüngste Vergangenheit zeigt, nicht beeindrucken lassen. Es geht um Machterhalt, notfalls gegen das eigene Volk. Die erfolgreiche Strategie gegenüber Grossmächten von Grossvater Kim il-sung dient als Leitplanke. Andrerseits sind China, die USA, Südkorea und Japan aus vielfältigen Gründen auch am Status Quo – allerdings ohne Atomwaffen – interessiert. Eine politische Implosion der nordkoreanischen Halbinsel ist für die meisten ein Horror-Szenario. Ziel Pjöngjangs sind allenfalls direkte Gespräche, vor allem mit den USA.
Berechnende Politik und Konzessionen
Marschall Kim wird in den westlichen Medien gerne als Spinner dargestellt. Seine Vorlieben für teures Leben, seinen exquisiten Haarschnitt, seine Leibesfülle, seine grotesken Auftritte sowie seine rüden Propaganda-Worte werden als Beweis herangezogen. Der junge Kim Jong-un jedoch hat sich seit Machtantritt vor viereinhalb Jahren – bei Lichte besehen – als hart und rational kalkulierender Politiker profiliert.
Auch innenpolitisch. Kim und jene, die hinter ihm stehen, haben zur Linderung der prekären Wirtschaftslage und des Nahrungsmittelmangels klammheimlich und natürlich inoffiziell Märkte aller Art, also eine Schattenwirtschaft, zugelassen. Der Schmuggel über die Grenze zu China am Yalu-Fluss blüht. Mit Geld lässt sich in Nordkorea heute, ausser Freiheit, schon fast alles kaufen. Nordkorea ist auch nicht mehr wie noch vor zehn, fünfzehn Jahren ein hermetisch nach aussen abgeschottetes Land. Die chinesisch-nordkoreanische Grenze ist des Schmuggels wegen porös. Südkoreanische Soap-Opera-Stars sollen mittlerweile im Norden so berühmt sein wie im Süden, dank geschmuggelter DVDs.
Löcherige Abschottung
In der Demokratischen Volksrepublik existiert unterdessen auch ein Netz für mobile Telefone. Über drei Millionen der insgesamt 24 Millionen Nordkoreanerinnen und Nordkoreaner besitzen heute ein Mobiltelefon, mit dem sie allerdings nur innerhalb des Landes kommunizieren können. Aber immerhin. Viele Schmuggler wiederum besitzen chinesische Handys, mit denen sie international verbunden sind und sogar Zugriff aufs Internet haben. Eine Rarität ansonsten in Nordkorea. Nur die Elite kann bislang von den Vorteilen des digitalisierten Lebens und vom Web profitieren. Mit andern Worten: Die Propaganda kann heute dem nordkoreanischen Volke nicht mehr wie vor zehn Jahren weismachen, dass Südkoreaner und Südkoreanerinnen in tiefer Armut leben.
Am Rande sei noch vermerkt, dass nur einen Tag vor dem neuesten Atomkracher die renommierte französische Nachrichten-Agentur Agence France Press AFP ein Büro in Pjöngjang eröffnen durfte. Dank Kim Jong-un sind nun mit AFP, der amerikanischen Associated Press AP sowie der japanischen Agentur Kyodo und der chinesischen Agentur Neues China (Xinhua) vier ausländische Nachrichtendienste in der stalinistisch-konfuzianischen Demokratischen Volksrepublik Korea tätig. Natürlich werden diese Journalisten, darunter einige in Hongkong weitergebildete nordkoreanische Journalisten, streng überwacht. Das ist noch keine Öffnung, keine Pressefreiheit. Trotzdem, ein ganz klein weniger offener als auch schon.
Damit hat es sich aber vorläufig. Was hinter den Kulissen nämlich vor sich geht, bleibt weiter im Dunkeln. Sitzt Kim Jong-un fest im Sattel? Ist der Atomtest ein Zeichen der Stärke oder Schwäche? Ist Nordkorea bereits ein Atomstaat? Wie viele politische Gefangene gibt es? Fragen über Fragen. Nordkorea-Experten bleibt deshalb nichts anderes übrig, als wie schon bei Grossvater Kim Il-sung, Vater Kim Jong-il und auch bei Kim Jon-un: in den grünen Teeblättern zu lesen.