Das Thema ist vergiftet. So sehr, dass der Bundesrat das Verhandlungsresultat für ein Rahmenabkommen mit der EU ohne eigene Bewertung in die Vernehmlassung geschickt hat. Er fürchtet die reflexartigen Attacken von links und rechts. Die haben in der Tat nicht auf sich warten lassen. Preisgabe von Souveränität und direkter Demokratie! – tönt es anklagend von der SVP. Und Gewerkschaften samt SP leisten der Blockade der Rechtsnationalen Sukkurs, indem sie jede Verfahrensänderung beim Schutz der Schweizer Löhne vor ausländischen Billiganbietern zum ultimativen No-go erklären.
Beide Seiten können für ihre Abwehrhaltung Gründe nennen. Was sie nicht in Betracht ziehen, ist die schlichte Notwendigkeit einer Verständigung mit der EU. Die Schweiz liegt nun mal mitten in diesem Gebilde, sie ist kulturell und wirtschaftlich mit ihm verflochten und in jeder Hinsicht an sein Wohlergehen gekettet. Zwar ist nicht zu bestreiten, dass einer langfristig tragfähigen Vereinbarung mit der EU erhebliche Hindernisse im Weg stehen. Bloss hebt dies die Notwendigkeit einer Annäherung nicht auf. Verantwortliche Politik muss diese Aufgabe schultern. Aber wie soll das angepackt werden?
Eine gute Europapolitik könnte wie folgt aussehen: Die Schweiz deklariert gegenüber der EU ihr grundsätzliches Interesse an einer Vollmitgliedschaft. Ein erneutes Beitrittsgesuch stellen die Eidgenossen vorderhand nicht, doch sie anerkennen ausdrücklich, dass die EU dem notorisch explosiven Kontinent nicht nur eine lange Zeit des Friedens und Wohlstands verschafft hat, sondern auch zukünftig dazu beitragen kann, beides in Europa zu bewahren. Ausgehend von dieser Sichtweise erklärt die Schweiz ihren Willen, beim historischen Projekt der europäischen Einigung aktiv mitzuwirken. Zu diesem Zweck schlägt sie der EU eine Vorgehensweise vor, die wir hier faute de mieux „gemeinsame Entwicklung“ nennen. Beide Seiten sprechen sich dabei für das langfristige Ziel eines Zusammengehens aus, lassen aber den Ausgang des Prozesses offen.
Was hier „gemeinsame Entwicklung“ genannt wird, fusst auf der Arbeit beider Seiten an Problemen, die sie ohnehin werden lösen müssen: Die EU sucht nach einem Modell unterschiedlicher Grade von Integration, kämpft mit Folgen der Migration, steht wirtschaftlich im globalen Wettbewerb und will ihre Handlungs- und Verteidigungsfähigkeit stärken. Die Schweiz wiederum steht vor der Herausforderung, ihr System der teilweise direkten Demokratie und der fast nur auf inneren Ausgleich ausgerichteten Regierungsform auf die Anforderungen der zunehmend vernetzten Staatenwelt auszurichten. Dies im Zeichen einer „gemeinsamen Entwicklung“ anzugehen bedeutet, dass die Schweiz und die EU die Verhandlungen erklärtermassen vor dem Hintergrund ihrer jeweiligen Reformagenden führen. Aus einem solchen Vorgehen ergibt es sich wie von selbst, Fernziele und einzelne Etappen zu unterscheiden und beides stets im Auge zu behalten. Zudem können die Verhandlungspartner neben den Kernthemen auch Versuchsfelder beackern, auf denen unterschiedliche Formen der Kooperation erprobt und evaluiert werden.
Es wird in der Europapolitik wieder vorwärtsgehen, wenn wir die EU als hoffnungsvolles Generationenprojekt sehen, auf das wir uns mit langem Atem einlassen. Gegenüber notorischen Miesmachern – sie geben bei extremen Rechten und sektiererischen Linken wie auch im Sumpf der Polit-Trolle den Ton an – muss ganz deutlich gemacht werden, dass ein Europa ohne EU ein nicht nur ärmerer, sondern auch gefährlicherer Kontinent wäre. Für die Schweiz gilt es, im Generationenprojekt Europa eine konstruktive Rolle zu übernehmen. So werden wir nicht nur Vorteile für uns herausholen, sondern auch unseren Beitrag für eine europäische Zukunft leisten.