Die Schweiz hat ein Energieproblem. Damit wir die beschlossene Energiewende rechtzeitig schaffen, braucht es verbindliche politische Prioritäten, Offenheit für neue Lösungen, Realitätssinn und Kooperationswillen, auch wenn dieser schwerfallen mag.
Der rasche Ausbau unserer nachhaltigen Stromquellen Wasser, Sonne und Wind ist prioritär. Stauseeprojekte, Fotovoltaik und Windturbinen sollen forciert werden. Die Option Nuklearstrom muss im Auge behalten werden. Stromsparen dürfte Pflichtfach werden.
Gewagte Theorie gegen unbequeme Aussichten
Beginnen wir beim Nuklearstrom. Könnten zukünftige Reaktoren tatsächlich Atommüll verbrennen, wie Befürworter argumentieren? Christoph Pistner, Physiker und Leiter Nukleartechnik beim Öko-Institut Darmstadt, verweist dabei auf den Umstand, dass es sich bei solchen Projekten nicht um Reaktoren, sondern lediglich um Modelle handle; dass an Gefahren wie Erdbeben oder Angriffe von Terroristen nicht gedacht worden sei und dass es auch bei diesen Modellen nicht ganz ohne hochradioaktiven Abfall ginge. Zudem «würde es, bis ‹neue› Reaktorkonzepte realistischerweise zur weltweiten Stromversorgung beitragen könnten, noch Jahrzehnte» dauern («Die Zeit»).
Das Endlagerproblem. Seit fünfzig Jahren sucht die Nationale Genossenschaft für die Lagerung radioaktiver Abfälle (Nagra) in der Schweiz nach Lösungen für eine sichere Entsorgung des Atommülls. Sie sucht und sucht, inzwischen wartet der Atommüll in einem oberirdischen Zwischenlager (Zwilag) und in Lagern neben den Atomkraftwerken auf den definitiven Entsorgungsort. Das eine ist die sichere und billige CO2-freie Stromproduktion, das andere die Entsorgung des hochradioaktiven Mülls und die Sicherheitsgarantien bei der Produktion. Alles ungelöst. Trotzdem ist es richtig, die Nuklearforschung zu vertiefen. Wir können heute nicht wissen, welche Techniken dereinst erfunden werden.
Ziel: Versorgungssicherheit erhöhen mit erneuerbarer Energie
Immer wieder hören wir, unsere Energie-Versorgungssicherheit stehe auf dem Spiel. Was feststeht, ist der Faktor der Abhängigkeit unseres Landes von Energieimporten. Erdölimporte aus dem mittleren Osten, Gasimporte aus Putins Russland oder ganz banal Stromimporte aus der EU – alle drei Importquellen sind momentan problembeladener als auch schon.
Deshalb sucht unsere Energieministerin Simonetta Sommaruga mit Nachdruck nach neuen, alternativen und nachhaltigeren Lösungen. Angestrebt wird etwa die Leistungssteigerung der einheimischen Wasserkraftwerke oder der zügige Ausbau der Wind- und Solarenergie.
Blockierte Stauseeprojekte
Die helvetischen politischen und rechtlichen Strukturen sind nicht geeignet, solche Ziele rasch zu verwirklichen. Beispiele: Für die Erhöhung der Grimsel-Staumauer um 23 Meter wird mittlerweile seit über zwanzig Jahren gestritten. Oder: 76 Bauprojekte für Windturbinen sind gegenwärtig vor Gericht blockiert.
Jetzt geht die Energieministerin aufs Ganze: Um eine deutliche Temposteigerung beim Umstieg auf erneuerbare Energie zu realisieren, plant sie kürzere Rekursverfahren beim Ausbau der einheimischen Stromproduktion. Hinter all diesen Bemühungen steht ein Ziel: die Sicherung unserer Stromproduktion. Wasserkraft steht dabei im Vordergrund. Für dieses Anliegen muss sie die Natur- und Heimatschutzverbände ins Boot holen. Angesichts der kritischen Versorgungslage müssen diese wichtigen Schutzorganisationen einsehen, dass ihre Blockadepolitik nicht länger akzeptiert werden kann. Für einmal gelten andere Prioritäten.
Im Fokus stehen die Stiftung Landschaftsschutz, der Verband Aqua Viva und die Greina-Stiftung. Diese drei Organisationen gehören zu den 31 beschwerdeberechtigten Umweltverbänden. Alle drei machen klar, dass sie Stauseeprojekte weiterhin bekämpfen werden («Tages-Anzeiger»). Bei aller Sympathie für ihre Anliegen und für den obersten Landschaftsschützer Raimund Rodewald: Es wäre ratsam, im Rahmen einer neutralen Dringlichkeitsabwägung Kooperationswillen anstelle dogmatischer Blockierung in Betracht zu ziehen.
Solarstrom intelligent nutzen
Fotovoltaik hat es schwer in der Schweiz. In weiten Kreisen fehlt das Vertrauen in diese Technik, obwohl kein Zweifel besteht, dass sich Sonnenenergie bestens eignet, um Strom vor Ort zu erzeugen. In Diskussionen hört man immer die gleichen Zweifel: Was ist, wenn keine Sonne scheint, was ist nachts, was ist, wenn Schnee auf dem Dach liegt? – Lauter vorgeschobene Argumente.
Meteotest AG hat im Auftrag der Stadt Zürich 2021 berechnet, dass 16 Prozent des Energiebedarfs der Stadt problemlos mit Solaranlagen abgedeckt werden könnten. Dazu würden sich in besonderem Masse Flachdächer eignen, die gut besonnt sind («Tages-Anzeiger»). Für den so erzeugten überschüssigen Strom, der nicht für die Eigennutzung verbraucht wird, erhält der Besitzer der Anlage für ins Netz eingespeisten Strom eine Vergütung (die leider oft zu tief ist).
Insbesondere bei Neubauten wäre viel mehr möglich, als es heute der Fall ist. Die neueste Generation von Dachziegeln (z. B. von Meyer Burger) sind gleichzeitig Solarpanels. Immer mehr neue Fassadensysteme – hier ist die Schweiz führend –, sogenannte gebäudeintegrierbare Solaranlagen (z. B. von 3S Solar Plus), können für die Stromproduktion genutzt werden («Sonntagszeitung»). Solaranlagen werden generell jedes Jahr billiger und gleichzeitig effizienter. Auf dem Weg in eine klimaschonende Zukunft gibt es heute interessante und wirtschaftlich lohnende Alternativen – oft fehlt es leider bei Liegenschaftsbesitzern am nötigen Interesse.
Solarwall AG wirbt in Publikationen von Smart Media insbesondere dafür, dass Gebäude künftig nicht nur Energieverbraucher sein sollen, sondern zu eigentlichen Energielieferanten mutieren können. Mit solchen gebäudeintegrierten Fotovoltaikanlagen können wir die Energiewende vorantreiben. Besonders grössere öffentliche Gebäude eignen sich dafür – hier wären Besitzer und Verwalter am Zug.
Ölheizungen sind sofort zu ersetzen
Neue Ökobilanzstudien zeigen, dass es Sinn macht, bestehende Ölheizungen sofort zu ersetzen. Unverzeihlich ist das Verhalten von Hausbesitzern, die jetzt (bevor Verbote kommen) noch schnell ihre alten Ölheizungsanlagen durch neue ersetzen. Luft- und Erdwärmepumpen, Fernwärmeheizung sind längst erprobt und weisen den Kurs weg von nicht erneuerbaren Erdölquellen.
Nach Schätzungen des Bundes sind in der Schweiz noch immer 900’000 fossile Heizanlagen in Betrieb. Es müssten jährlich mindestens 30’000 solcher Anlagen ersetzt werden, soll das Ziel von CO2-freier Zukunft ab 2050 erreicht werden. Doch aktuell werden nur etwa 12’500 jährlich ersetzt («Tages-Anzeiger»).
Stromsparen gilt nicht als Alternative, warum eigentlich nicht?
Es fällt auf, dass im Zusammenhang mit Stromlücken nie davon die Rede ist, dass Stromsparen natürlich eine effektive und vor allem schnelle Alternative wäre. Insgesamt 25 Sparmöglichkeiten nennt zum Beispiel die Homepage co2online.de, die auch einen individuellen Rechner anbietet, damit Verbraucher ihr persönliches Energie-Sparpotenzial berechnen können.
Hand aufs Herz: Wer nachts durchs Land fährt, vorbei an Tausenden von Impuls-Scheinwerfern, beleuchteten Hausfassaden und Gärten, Strassenbeleuchtungen oder taghell beleuchteten Treppenhäusern, wird zustimmen: Da liegt Sparpotenzial brach. Auch tagsüber gibt es Sparmöglichkeiten zuhauf, etwa: Standby-Funktion für TV und Computer deaktivieren, Heizungskörper-Temperatursenkung, Kippfenster im Winter schliessen.
Letztlich geht es um die Klimazukunft
Bei allen Diskussionen um den Einsatz von erneuerbaren Energiequellen anstelle der nichterneuerbaren geht es letztlich um den Versuch, den Klimawandel aufzuhalten. Glücklicherweise gibt es immer weniger Menschen, welche die Existenz der Klimaerwärmung oder den Einfluss des Menschen dabei abstreiten. Die Faktenlage ist zu eindeutig.
Reto Knutti, der Schweizer Klimatologe und Professor für Klimaphysik, beklagt den fehlenden politischen Willen und verweist auf die Corona-Krise, in der die Politik notgedrungen die Führung im Kampf gegen das Virus übernahm. Etwas Ähnliches müsste wohl bei den Anstrengungen gegen die Klimaerwärmung passieren. «Denn noch immer frönen viele Menschen ihrem persönlichen Weltbild, geprägt von Individualismus, Freiheit und Misstrauen gegen staatliche Regelungen. Die vorgeschlagenen Massnahmen zum Klimaschutz stellen dieses Weltbild in Frage.» («Smart Media»)
Atomenergie als Lösung vor dem Klimakollaps?
Zurück zum Anfang dieses Beitrags. Wenn politische Kräfte jetzt für eine neue Generation von Atomkraftwerken plädieren, sollten wir nicht vergessen, wie es heute in Fukushima aussieht: «Auf dem Kernkraftwerksgelände sind zehn Jahre nach der Katastrophe noch immer rund 4000 Menschen mit Aufräumarbeiten in Strahlenschutzanzügen beschäftigt. Noch immer versuchen sie, das giftige Herz des Kraftwerks zu bergen, ein klumpiges, hochradioaktives Gemisch aus Kernbrennstoff, Stahl und Beton. […] Bis heute ist nicht klar, wie der geschmolzene Brennstoff entsorgt werden soll.» («Die Zeit»)
In Deutschland, in Greifswald, begann der Rückbau eines Atomkraftwerks vor dreissig Jahren – und es ist kein Ende in Sicht. Wann sie fertig werden, weiss niemand. Vielleicht 2060 oder 2070? («Die Zeit») Wenn also heute bürgerliche Kreise – allen voran die FDP-Spitze – in der Schweiz für eine AKW-Renaissance plädieren, gibt es mehr Frage- als Ausrufezeichen.
Mit Wahlkampfgetöse lösen wir keine Energie-Versorgungslücken und generieren auch keine erfolgversprechenden Massnahmen gegen die Klimaerwärmung. Zur Lösung dieser schwierigen Problematik könnte vielleicht ein Runder Tisch beitragen, um den sich kooperationswillige Menschen versammeln, die breit abgestützte Projekte schmieden, gemeinsam, ehrlich bemüht.