Nach der Digitalisierung aktualisiert der 93-jährige Philosoph Jürgen Habermas seinen Klassiker von 1962 «Strukturwandel der Öffentlichkeit». Heute sieht er die demokratische Beratschlagung gestört, es mehren sich Zeichen politischer Regression.
Zwischen dem Klassiker und dem jetzt erschienen aktuellen Bändchen liegen mehr als 30 Auflagen des ersteren, die seit 60 Jahren auf der ganzen Welt in den unterschiedlichsten farblichen Aufmachungen erschienen sind. Die Erstausgabe, herausgekommen bei Luchterhand, und die jetzt bei Suhrkamp erschienene Fortsetzung sind dagegen von suggestiver Ähnlichkeit: rotes Cover, weisse Lettern, Balken im 50er-Jahre Design. Da scheint die Frage, «ob wir von einem ‘neuen’ Strukturwandel der Öffentlichkeit sprechen müssen» schon im Voraus beantwortet. Allerdings wäre noch zu klären: welcher Strukturwandel? Denn der hat eine wechselvolle Geschichte.
Idee der Öffentlichkeit als Keimzelle der Demokratie
Habermas bestimmte 1962 Öffentlichkeit als «die zum Publikum versammelten Privatleute». Sie treffen sich ab Mitte des 18. Jahrhunderts in Kaffeehäusern, Klubs und Salons und debattieren dort über Dinge, die alle angehen. So wird Öffentlichkeit zum Resonanzboden für politische Entscheidungen, die dadurch demokratisch werden.
Zwar gibt die Realität dies nur ansatzweise her. Doch zeitgleich dringt die Idee ein in die philosophisch-politische Literatur. Von Kant über Hegel bis zu Tocqueville entsteht in Europa und Amerika das liberale Bild einer Arena, die sich vermittelnd zwischen Staat und Gesellschaft schiebt. Die produzierenden Privatleuten erhalten maximale Wirtschaftsfreiheit. Eingriffe der staatlichen Entscheidungsträger sind aufs Minimum begrenzt. Dazwischen nimmt die Öffentlichkeit ihre vermittelnde politische Funktion wahr.
Dieses liberale Modell ist einerseits «ideal», weil es Vorstellungen formuliert, wie in einem Land Regierung und Bürger gemeinsam und rechtskonform für ein funktionierendes Gemeinwesen einstehen können. Aber es ist auch empirisch geerdet, weil es sich an der gewachsenen Entwicklungsgeschichte der «Verfassungsrevolutionen» des späten 18. Jahrhunderts orientiert. Berücksichtigt eine Theorie beides, so hat sie es mit einem «normativen Gefälle» zu tun, das in ihrem Untersuchungsobjekt schon wirkt. Ihre Aufgabe ist es, dieses tatsächliche Gefälle zwischen Anspruch und Wirklichkeit in einer «rationalen Rekonstruktion» allgemein zu formulieren.
Marktprinzip und Digitalisierung erodieren das Ideal
Nun zeigt sich, dass das grundlegende liberale Prinzip der politisch fungierenden Öffentlichkeit in den «sozialstaatlichen Massendemokratien» nicht mehr so funktioniert wie es soll. Denn Öffentlichkeit gerät unter politischen Einfluss und wird zudem durch Öffentlichkeitsarbeit künstlich produziert. Privat und Öffentlich unterscheiden sich nicht mehr trennscharf, die Staatsbürger tauschen die Rolle und werden Privatiers.
Hatte die Presse den zum Publikum versammelten Privatleuten in ihrem Freiheitsdrang zur Seite gestanden, muss sie in der Hand von Verlegern Gewinne einfahren. So wird sie Teil der vom Markt unterjochten «Kulturindustrie». Habermas kam seinerzeit zu dem Schluss, dass die Arena am Kippen ist. Der Strukturwandel der Öffentlichkeit besteht in ihrem zunehmenden Verfall – das ist die erste Variante. Analog dazu würde sie heute lauten: In der Folge der Digitalisierung erodiert die Öffentlichkeit und kann ihre politische Funktion nicht mehr erfüllen.
Oder es hat einen Strukturwandel dieser Art nie gegeben. Denn was Habermas in fünfundzwanzig Kapiteln beschreibt, ist ja ein historischer Entwicklungsprozess, in dem sich das zarte Pflänzchen einer politischen Öffentlichkeit und ein sie idealisierender Begriff gebildet haben – um dann vom Zangengriff von Macht und Geld auf den Boden der Tatsachen geholt zu werden.
Aber eben nicht endgültig. Tatsächlich hat Habermas in seinem Vorwort zur zweiten Auflage erklärt, seine zeitdiagnostische Brille habe, von der Adenauer-Ära getrübt, ein zuviel an Entpolitisierung entdeckt. «Heute», schrieb er 1990, wäre sein Ausblick womöglich weniger «trotzig» ausgefallen. Für einen neuen Strukturwandel hiesse das: Die Chancen für eine funktionierende politische Öffentlichkeit im Zeitalter der Digitalität sind erschwert, aber noch nicht dahin.
Theorie der Verständigung als neuer Ansatz
Der mildere Blick könnte auch mit einem Wandel in der Theorie zu tun haben. Lange vor seiner Revision der These vom Strukturwandel hatte Habermas die theoretische Basis hierfür gelegt, aus vielen Gründen. Die Entwicklung einer angemesseneren Öffentichkeits- und Demokratietheorie ist nur einer davon. Der Paradigmenwechsel zur sogenannten Sprachpragmatik versprach der Komplexität moderner Gesellschaften besser gerecht zu werden.
Während das ökonomische System und die staatliche Verwaltung erfolgsorientiert verfahren, ist unsere alltägliche Lebenswelt nach dem Muster der Verständigung orientiert. Die beiden Subsysteme Ökonomie und Staat haben sich verselbständigt, ihr Einfluss auf die Lebenswelt muss begrenzt bleiben; sonst wären Pathologien wie Burnout und andere psychische Leiden die Folge, aber eben auch die Abkehr von Gemeinschaft und politischer Beteiligung.
Politische Öffentlichkeit muss im Schnittfeld lebensweltlicher Verständigungsorientierung und systemischer Rationalität fortlaufend bestehen: Aus der räumlichen Vorstellung des «versammelten Publikums» wird ein verflüssigtes «Verfahren der demokratischen Selbstermächtigung». Jetzt wird Öffentlichkeit nicht mehr am engeren Zuschnitt des «Strukturwandels» gemessen, sondern auf breiterer Basis, in den unterschiedlichsten Registern des deliberativen Verfahrens, das im Titel des Buchs mitgenannt ist und auf öffentlicher Beratschlagung basiert. Das deliberative Modell ist, so Habermas in einem seiner erhellenden Sprachbilder, eine «diskursive Kläranlage, die aus wildwüchsigen Prozessen der Meinungsbildung interessenverallgemeinernde und informative Beiträge zu relevanten Themen herausfiltert und diese (...) an das zerstreute Publikum der Staatsbürger zurückstrahlt».
Störfaktoren in unsicherer Lage
Doch diese Kläranlage funktioniert nicht mehr richtig. An der Digitalisierung allein liegt es nicht. Ein ganzes Bündel von Störungen summiert sich zu einem Befund, der viel Anlass zur Beunruhigung gibt. Die unsichere Situation, in der sich Demokratie, Öffentlichkeit und Medien heute befinden, kann darin mit dem seinerzeitigen «Strukturwandel» mindestens mitziehen.
Eine robuste Meinungs- und Willensbildung ist auf bestimmte Voraussetzungen im Hintergrund angewiesen, etwa auf geteilte Wertorientierungen, Möglichkeiten für den beruflichen Aufstieg und «sozialstaatliche Ausbalancierung». Störfaktoren sind dagegen der Migrationsdruck, die Pandemie, die Klimakrise. Und, wie zu ergänzen wäre (der Text war vor Beginn geschrieben worden), der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine.
Noch grundsätzlicher lief etwas falsch beim Sturm auf das US-amerikanische Capitol, weil sich darin eine direkt von oben (Trump) angestachelte Aufkündigung der Verfassungsloyalität manifestiert, die den unhintergehbaren politischen Grundkonsens einer Demokratie stiftet. Die Zeichen politischer Regression sind «mit blossem Auge zu sehen». Hier hat der «zumindest temporäre Zerfall» der politischen Öffentlichkeit schon stattgefunden.
Nicht Konsens, sondern qualifizierter Dissens
Die «ambivalente Sprengkraft» der zentrifugalen Entgrenzung des Internets und die Beschleunigung der Kommunikation sind beunruhigend. Andererseits eröffnen sich diesseits davon niederschwelligere Probleme, welche die Politik in Angriff nehmen könnte: Das Gatekeeper-Prinzip, die redaktionelle Kontrolle, könnte zumindest auf manche digitale Angebote ausgedehnt werden. Die Leitmedien könnten analog zum öffentlich-rechtlichen System gestärkt werden. Um die Unterscheidbarkeit zwischen News und Fake News zu garantieren, müssten regulierende Massnahmen ergriffen werden. Habermas hält dies – im Interesse künftiger Generationen – sogar für «verfassungsrechtlich geboten».
Im «neuen Strukturwandel» geht Habermas auf ein altes «Missverständnis» ein. Politische Diskurse würden an der Qualität der Beiträge, «nicht am Ziel eines ohnehin nicht erreichbaren Konsenses» gemessen, gerade im politischen Diskurs. «Wer argumentiert, widerspricht.» Der einzige Konsens hat mit dieser qualitativen Verpflichtung zu tun, und «vor diesem konsentierten Hintergrund besteht der gesamte demokratische Prozess aus einer Flut von Dissensen».
Ja zum Widerstreit und zur Balance
Habermas leitet dies auf plausible Weise aus seinem Ansatz ab. Das Argument ist von der Konzeption seiner Theorie gedeckt. Doch hat er die Narration vom «zwanglosen Zwang des besseren Arguments» auch schon mit mehr Vernunftemphase und weniger «agonal» erzählt. Die Betonung des Widerstreits bedeutet einen Akzentwechsel.
Habermas’ Projekt der Moderne ist der grandiose Versuch, das Modell demokratisch verfasster Gesellschaften als Mobile zu beschreiben, das an feinen ziselierten Fäden der Rationalität hängt und das die demokratischen Regierungen schützend in der Balance zu halten haben. In der Bonner Republik schien dies grosso modo gelungen. Aber nun scheinen bei Habermas Zweifel aufzukommen: Diese Epoche leidlich gelingender politischer Kommunikation könnte ein glücklicher Sonderfall der Geschichte gewesen sein.
Jürgen Habermas: Ein neuer Strukturwandel der Öffentlichkeit und die deliberative Politik, Suhrkamp Verlag, Berlin 2022, 108 S.