„Rationale Ratten“ … : Das verweist auf ein Lernen/Lehren, das nicht um seiner selbst willen, sondern – wie meist im Fall der Rattenexperimente und jedenfalls aus Sicht der Nager – um anderer Gratifikationen willen geschieht: um ein Stück Käse zu ergattern oder darum, einem unangenehmen Stromschlag zu entgehen. Ausserdem soll das Adjektiv „rational“ einen Unterschied markieren; nämlich den zur (sokratischen) Vernünftigkeit. Die Differenz zwischen „Rationalität“ und „Vernunft“ ist wesentlich.
Der kluge Panther aus dem „Dschungelbuch“
„Der kluge Panther“ – das ist Bagheera, die Figur aus Kiplings „Dschungelbuch“. Und ich meine wirklich das Buch, nicht den Film. Zwar finde ich auch den Film hinreissend; zum Beispiel dann, wenn der Bär Balou und sein (Schein)Tod uns zu Tränen rühren. Doch vielleicht ist es interessant zu hören, dass der ursprüngliche Text und Disneys Filmerzählung nicht überall dem gleichen Muster folgen. Das ist mir erst beim Lesen des Buches aufgegangen; und ich habe dabei wieder einmal gelernt, dass es gut ist, a) seine Vormeinungen zu prüfen und b) darüber nachzudenken, was (bewegte) Bilder mit uns machen – bzw. was uns passiert, wenn wir uns lesend inspirieren.
Die Sache wird schnell vielschichtig. Insofern ist sie der richtige Einstieg ins Thema der „sokratischen Vernunft“. Obwohl Sokrates selbst immer nur ganz einfache Dinge wissen wollte. Zum Beispiel, wie es kommt, dass wir überhaupt fragen und lernen können.
Doch zunächst zu den „rationalen Ratten“ und zum „klugen Panther“.
Schüler muss man gelegentlich zum Glück zwingen
Es ist klar: Rattenlehren ist Dressur; Erziehung durch Konditionierung mittels Zuckerbrot und Peitsche. Dass das keinen guten Ruf hat unter fortschrittlichen Pädagogen und heute nur noch von chinesischen „Tigermüttern“ empfohlen wird, weiss man. Aber – so meine ich – in ganz bestimmten Zusammenhängen ist sogar diese Lehr- und Lernform nützlich. Und ich komme mir dabei selber in den Sinn; nämlich als missmutiger Rekrut vor gut fünfzig Jahren, in der Gebirgsfüsilier RS zu Andermatt.
Knoten in Bergseile zu bringen, fand ich, ehrlich gesagt, nicht das, was ich gerne tat (und auch vieles andere nicht, was so zu einer RS gehört), und ich hätte die Sache mit der Bergseilknoterei nie gelernt, wenn ich nicht – mit den üblichen Methoden (Üben, während der Rest im Ausgang ist oder gerade Pause hat, um in der Kantine Crèmeschnitten zu verschlingen) – dazu genötigt worden wäre. Doch als es einmal ernst wurde auf dem Grat und unser Trüpplein schnell, aber gesichert absteigen musste, war ich froh, das Nötige gut und flink zu können. Inzwischen habe ich es freilich längst wieder vergessen. – Als Lehrer/Lehrerin kommt man gelegentlich nicht darum herum, seine Schüler zu ihrem Glück zu zwingen; auch wenn das einem selbst zuwider ist.
Viel mehr will ich zu den „rationalen Ratten“ nicht sagen; zur „Rationalität“ und ihrem Gegensatz, zur „Vernunft“, später aber schon.
Klugheit hat mit Gefühl und Empathie zu tun
Klugheit, „Prudentia“, ist eine besondere Form, die eigene Geisteskraft zu gebrauchen.
Wer klug ist, ist auch klug genug, nicht alles zu sagen, was er oder sie schon weiss. Und wenn etwas gesagt werden muss, es im richtigen Augenblick zu tun. Dann nämlich, wenn es passt; nicht zu früh und nicht zu spät. Zur Klugheit gehört, schweigen zu können; zu warten, bis der Moment gekommen ist, wo die, die es angeht, zu kapieren in der Lage sind, was auf dem Spiel steht und worum es geht.
Also etwa dann, wenn jemand eine entscheidende Erfahrung machte, die seine/ihre Augen und Ohren öffneten für die Sache, die zu lernen ist.
Die klassischen Entwicklungsromane, ob die von Dickens oder Goethe, enthalten stets die Figur des Lehrers, der dem Helden (seltener der Heldin) – angemessen an die gegebene Lebenssituation – den Weg zeigt, den dieser (dann allerdings allein) zu gehen hat.
Das scheint mir übrigens auch eine Erklärung zu liefern für den weltumspannenden Erfolg der Harry-Potter-Geschichten. Immer wieder findet sich der richtige Lehrer oder die richtige Lehrerin, die Harry ermuntern, den nächsten wichtigen Schritt zu wagen. Ein Wunsch ans Schicksal, der sich so wenigstens im Buch erfüllt.
Bei Kipling ist dieser Lehrer der Panther Bagheera, der Mogli das Gesetz des Dschungels lehrt, indem er es Mogli selber finden lässt und seinem Schüler erst ganz zum Schluss sagt, dass der nun etwas leisten muss, was der Lehrer zwar als notwendig erkannt hat, selber aber nicht zu vollbringen vermag – nämlich zu den Menschen zurückzukehren.
Zum guten Lehrer, zur guten Lehrerin gehört, sich zu freuen, wenn die Zöglinge über sie hinauswachsen.
Womit ich bei den drei nächsten Themen angelangt bin: Bei der Feststellung, dass Klugheit nicht andressierbar ist, andernfalls wäre sie nämlich nicht Gespür für den richtigen Zeitpunkt (man könnte sie sonst vermitteln wie eine beliebige Fertigkeit); zweitens, dass Klugheit viel mit Gefühl und Empathie und – jedenfalls auf dem Feld der Erziehung – auch mit Menschfreundlichkeit, zu tun hat; drittens, dass sie nur exemplarisch zu realisieren ist:
Bagheera hat den verletzbaren, dünnhäutigen Nicht-Wolf gern; was Bagheera nicht hindert, streng mit ihm zu sein. Bagheera weckt durch seine Freundlichkeit die Zuversicht und das Selbstvertrauen im Gegenüber – was angesichts der Beteiligten, Panther und Menschenkind, alles andere als selbstverständlich ist.
Ich will nicht lange mit der Interpretation von Kiplings weltberühmter Erzählung fortfahren. Ihr Generationen überdauernder Erfolgt hängt aber an dieser Verbindung des Unwahrscheinlichen mit der Möglichkeit, dass es „hienieden“, auf der „irdischen Welt“, so etwas wie das Gute – trotz allem – wirklich gibt. Bagheera, der die Menschen kennt, weil er einmal ihr Gefangener war, ist in Kiplings Märchen die Gestalt, durch die sichtbar wird, dass eben nicht nur das Gesetz des Dschungels („Fressen und Gefressen-Werden“) gilt, sondern dass auch die Chance – und das Wissen – eines Umgangs zwischen den Geschöpfen der Erde existieren, die an die Friedensutopie des biblischen Paradieses anknüpfen.
Vielleicht wird mir entgegnet, das sei zu weit gegangen; so tiefsinnig sei die Geschichte nicht. Ich unterstelle aber, dass man nicht daran zweifelt, die Aufgabe des Lehrers/der Lehrerin in der Vermittlung von Zuversicht und Selbstvertrauen zu sehen; und mir dabei zugibt, dass dies nur gelingt, wenn es von einem Funken paradiesischer Hoffnung entzündet wird; diesem möglichen Wunder, das auf liebenswert anschauliche Weise im klugen Panther Bagheera aufleuchtet.
Weil Mogli an Bagheera sein menschenfreundliches, glaubwürdig konkretes Vorbild hat, wird denkbar, dass auch in Moglis eigener Zuversicht und Selbstsicherheit nicht bloss die Herrscherattitüden des Siegers und das auftrumpfende Recht des Stärkeren entstehen, sondern eine Gesinnung, die „human“ in jenem Wortsinn ist, der uns mit der Aussicht auf eine Welt verbindet, die gut für alle sein kann.
Ich weiss, an solche Utopien zu erinnern, wird sich am leichtesten der leisten, der nicht täglich beschäftigt ist mit den Widrigkeiten, der Mühsal, schlimmer noch: dem Bösartigen, das die soziale Wirklichkeit vieler, vermutlich sogar sehr vieler – auch – unserer Primarschulen mitprägt. Dennoch beharre ich darauf, dass ein guter Lehrer, eine gute Lehrerin eine gehörige Portion utopischer Energien braucht, um gut zu sein und um – in der vollen Bedeutung des Wortes – auch gut zu bleiben.
Gelingende Lehre sei exemplarisch, das bedeutet: Ohne persönliche Präsenz, ohne wenigstens die Spur jener Begeisterung, die uns erfasst, wenn wir als Lehrer merken: „Ja, jetzt hat es gezündet!“, lässt sich das geistige Feuer wirklichen Lernens nicht entfachen.
Gute Lehrer und Lehrerinnen, die dem vernünftigen Wissen-Wollen auf die Sprünge helfen, sind daher weder Dompteure noch Funktionäre des Informationstransfers. Sie sind Hellmacher, Heimzünder, „Aufwecker der Seele aus dem tiefen Schlaf der Gewohnheit“, wie Ralph Waldo Emerson einmal sagte und dann hinzufügte: „Das ganze Geheimnis der Macht eines Lehrers besteht in der Überzeugung, dass die Menschen veränderbar sind. Und sie sind es. Sie wollen aufwachen.“
Sokrates und unser Nicht-Wissen
Etwas überspitzt formuliert habe ich bis jetzt vor allem über die moralischen Tugenden gesprochen, die das „Lehrer-Sein“ auszeichnen sollten; über Eigenschaften wie Glaubwürdigkeit, Menschfreundlichkeit, Ausdauer und Empathie. Dabei ist die Differenz zwischen Rationalität und Vernunft, die mir wichtig ist, nur indirekt zur Sprache gekommen. Etwa beim Gegensatz zwischen dem erbarmungslosen „Gesetz des Dschungels“ und Bagheeras heimlicher Hoffnung auf wahrhafte Menschlichkeit.
Um nun ein Stück weiter zu kommen und dabei die eher intellektuellen Aspekte erfolgreichen Lehrens und Lernen zu beschreiben, will ich mich jetzt an die Gründergestalt westlichen Philosophierens und nachdenklichen Lebens halten; an den Athener Sokrates.
Sokrates ist ein Lehrer, dessen Lehre zunächst nur darin besteht, uns auf unsere Defizite, auf unser Nicht-Wissen hinzuweisen und uns dadurch dorthin zu führen, wo der eigentliche Ursprung des Lernens liegt: nämlich in uns selber; in der Fähigkeit unserer Vernunft, ihr eigenes Nicht-Wissen fruchtbar machen zu können.
Das klingt schwieriger als es ist.
Im Dialog „Menon“* wird dieser Fortschritt in drei Etappen durchlaufen; beginnend bei der Entdeckung der irrigen Vormeinung, man sei doch schon im Besitz der Wahrheit, über den Zusammenbruch dieser falschen Sicherheit bis hin zum Anfang selbst erworbener Einsicht.
Ein Stück weit möchte ich diesen Gang jetzt wiederholen.
Er beginnt mit einer Konsternation: Menon, der dem platonischen Dialog mit diesem Titel den Namen gibt, und einer dieser Leute ist, die Sokrates in seine berühmten Gespräche verwickelt, Menon ist verwirrt. Seinen Dialogpartner Sokrates, der sich einmal mehr, wie fast in allen platonischen Frühdialogen, als der Meister des Nicht-Wissens, aber Fragen-Könnens erweist, tituliert Menon als „Zitterrochen“ (griechisch „narkae“).
Warum?
Menons Klage macht es klar: „Denn auch dieser (der Rochen) lässt jeden, der ihm nahekommt und ihn berührt, erstarren. Und so dünkt mich, hast auch Du, Sokrates mir jetzt etwas Ähnliches angetan, dass ich erstarre.“
Menon steckt in der Klemme. Nichts mehr kommt ihm in den Sinn, nachdem er sich mit Sokrates auf die Diskussion des Problems eingelassen hat, ob die „Tugend (= das, was einen Menschen gut und tüchtig macht) lehrbar“ sei; mithin ein zu Wissendes und von der Einsicht Abhängiges. – „Tausend Mal hab’ ich schon über die Tugend (griechisch: aretae) Reden gehalten – vor vielen; und sehr gut, wie mich dünkt. Jetzt aber weiss ich nicht einmal, was sie überhaupt ist, zu sagen.“
Die Situation ist bedeutsam. Sie vergegenwärtigt die elektrisierende Kraft des Sokrates ebenso wie deren eigentümliche Einsatzform. Womit operiert Sokrates, um seine Provokationen zu erzielen?
In der Konsternation über die plötzlich verschwundene Tugendkenntnis bringt es Menon auf den Punkt: „Früher konnte ich die grössten Reden über die ‚aretae‘ halten, jetzt aber vermag ich nicht einmal mehr zu sagen, was sie überhaupt ist.“
„Was etwas sei …“ – die Frage also, worin jenes Eine und Bestimmte, das „Wesen“, besteht; d. h. das, was einer Sache Unverwechselbarkeit, Ständigkeit und begriffliche Fassbarkeit gibt, das ist Sokrates’ Epoche machendes Erkenntnisinteresse. Doch diese Frage nach dem „Was ist es?“ hat in der Tat etwas Verhextes und Verhexendes. Denn sie konfrontiert uns mit der Vielfalt unseres Sprechens und mit der Beweglichkeit sprachlicher Bedeutungen ebenso wie mit der Relativität unserer Urteile. (Man denke nur an die Homonymie des Wortes „Bank“ oder an die Pluralität dessen, was das Prädikat „gut“ bedeuten kann, aber auch an die Tatsache, dass wir – je nach Perspektive – eine Tat als heldisches Selbstopfer wie als terroristischen Anschlag qualifizieren können.)
Was etwas „in Wahrheit“ ist, markiert ein Problem grundsätzlicher Art. Denn einerseits gehen wir meistens davon aus, recht genau zu wissen, was wir beispielsweise unter einem „tapferen Menschen“ oder einem „gerechten Richter“ zu verstehen haben, doch in den Fragespielen des über sein eigenes Nicht-Wissen aufgeklärten Sokrates, wird meist sehr schnell sichtbar, wie brüchig dieser Glaube ist.
Das erfahren die Gesprächsteilnehmer in den platonischen Dialogen stets wieder von neuem. Sei es, dass es um das „Was“ der Tapferkeit geht, der Frömmigkeit, der Gerechtigkeit oder, wie eben im „Menon“, um das gemeinsame Allgemeine dieser Tugenden, also um das „Was“ oder das „Wesen“ des Gut-Seins selbst: Allemal wird über kurz oder lang der Punkt erreicht, wo die Sache selbst – durch die Auffächerung ihrer mannigfaltigen Spezifikationen und durch ihre Verflochtenheit in ein System unterschiedlicher und gegensätzlicher Begriffe – so widersprüchlich und unübersichtlich geworden ist, dass der Dialogpartner und – wenigstens dem Anschein nach – auch Sokrates nicht mehr ein noch aus wissen; blockiert durch gegensätzliche Vermutungen.
In den platonischen Schriften sind diese Aporien selten Sackgassen, sondern – um es mit einem Metaphernsprung zu sagen – eben Narkosen: Durchgangsstationen und Anfänge einer prinzipiellen Umwendung hin zum Beginn radikalen Nachdenkens; über ein Thema und über einen selber.
Das ist der Punkt, um den es mir geht bei meiner Frage, was den guten Lehrer, die gute Lehrerin eigentlich ausmacht. Gewiss ist es etwas jenseits von Dressur oder Auswendig-Lernen; Sokrates erklärt ja nichts. Er liefert keine Aussagen, die die Schüler im Gedächtnis abspeichern könnten. Und doch bringt er seine Partner (sofern sie denn mitmachen) auf den Weg nachhaltiger Selbstreflexion.
Auch dies geschieht behutsam – und zugleich unaufdringlich listig. Meistens eröffnet erst ein scheinbarer Umweg den Pfad zur Antwort: Menon hat sich, beim Versuch, die sokratischen Fragen zu beantworten, im Geschlinge widersprüchlicher Aussagen verheddert. Bewegungsunfähig geworden droht er im Element seines eigenen Denkens zu ersticken. Sokrates erlöst ihn aus dieser gefährlichen Lage, indem er ihm wenigstens wieder zu fragen erlaubt. Und zwar tut er das auf wahrhaft sokratische Weise – durchs Eingeständnis seiner eigenen Unwissenheit. Das bringt Menon zwar noch nicht zu klarer Verunft, aber wenigstens zum Reden: „Wie willst du, Sokrates, denn überhaupt dasjenige suchen, wovon du gar nicht weisst, was es ist?“ Menon stellt damit – allerdings ohne es sofort selber begriffen zu haben – die tiefsinnige Frage nach der Möglichkeit der Frage und des Fragens überhaupt.
Um die Tragweite dieses Problems aufdringlich werden zu lassen, verhält sich Sokrates erneut sokratisch – und diesmal unzweifelhaft ironisch. Er verschärft Menons Einwand gegen sein Philosophieren zum Sophisma: „Ich verstehe, was du sagen willst, Menon! … Dass nämlich ein Mensch unmöglich suchen kann. Weder, was er weiss, kann er suchen, denn er weiss es ja schon, und es bedarf dafür keines Suchens weiter; noch was er nicht weiss; denn er weiss ja dann auch nicht, was er suchen soll!“ Menon, froh, an ein Ende gekommen zu sein, stimmt dem Paradox fast schon erleichtert zu, während nun Sokrates darangeht, die Bedeutung der menonischen Frage nach der Frage zu entfalten.
Dabei macht er – nicht behauptend, sondern im gezielten Nach-Fragen – darauf aufmerksam, dass in allem Fragen nicht nur ein Nicht-Wissen, sondern ebenso ein implizites, manchmal unbewusstes, oft aber auch nur ein nicht ausdrücklich präsentes Vor-Wissen steckt, das sich, wenn es als solches bewusst gemacht ist, als tragfähig genug erweist, um Schritt für Schritt die gesuchte, anfänglich fehlende Einsicht zu finden.
Evidentermassen ist solches Lehren-im-Fragen, das Sokrates in vielen Gesprächen und im vorliegenden Fall mit Menon realisiert, keine Dressur und kein Eintrichtern, sondern das Freilegen eines latenten Vermögens, das im Nicht-Wissenden selbst bereits vorhanden ist: Wer nach dem Fragen fragt, stellt unzweifelhaft eine Frage, d. h. er sucht nach solchem, was er noch nicht weiss. Andererseits versteht er sich offenbar doch auf genau dies, wovon er sein Nicht-Wissen bekundet – aufs Fragen eben.
Dieser selbstwidersprüchlichen Konstellation begegnen wir aber stets und unausweichlich, wenn wir mit den Mitteln unseres Denkens auf unser Denken reflektieren. Wenn wir das aber – nun aufmerksam auf uns selbst – tun, dann entdecken wir, dass wir doch schon weiter sind, als wir dachten; denn irgendwie können wir es ja – das Fragen! Wir können es; doch wir sind nicht ohne weiteres in der Lage, dieses Können ausdrücklich zu explizieren.
Es ist wie beim Schuhbinden: Tun wir es einfach, haben wir kein Problem damit. Fragt man aber, wie das genau geht – was die linke Hand macht, was die rechte, welche Schrittfolge dabei einzuhalten ist usw. – dann geraten wir ins Schwitzen.
Überlegen bzw. fragen, was Fragen ausmacht, und wie und warum es möglich ist, zielt auf Selbstaufklärung. Was diese Suche sucht, sind die eigenen, ihr selbst innerlichen Voraussetzungen. Im gelingenden Fall erfüllt sich solche Selbstreflexion in der Einholung und in der Entfaltung dessen, was implizit und vorbewusst immer schon irgendwie wirksam und begründend ist, in seinem unauffälligen und unterschwelligen Fungieren aber ständig übersehen und vergessen wird. Es sind genau diese – natürlicherweise, d. h. im alltäglichen Vernunftgebrauch – verborgenen, nichtsdestotrotz fundamentalen Bedingungen ihres Tätigseins, die die Vernunft im reflektierenden Rückgang auf sich selbst entdeckt.
Um beim Menonbeispiel zu bleiben: Das selbstreflexive Fragen nach dem Was-Sein des Fragens oder der Tugend ermöglicht die Beschäftigung mit jenem besonderen Vor-Wissen, das uns schon immer zur Verfügung gestanden haben muss, um mit und bei ihm überhaupt auf ein Problem stossen zu können.
Selbstaufklärung, Fruchtbar-Machen des je eigenen Vor-Wissens, sind mithin ganz und gar nichts Mystisches; freilich nichts, was ohne anfängliches Erstaunen, ohne die Erfahrung der Verunsicherung, ohne die Erschütterung durch den sokratischen Schock zu haben wäre.
Der sokratische Fortschritt, beginnend beim Stolpern in und bei dem, was man doch schon meinte begriffen zu haben, über die bewusste Aufmerksamkeit des eigenen halbbewussten Vor-Wissens bis hin zur ausdrücklich-energischen Selbstreflexion lehrt das Lernen als solches: als fortschreitendes Sich-Einlassen auf die Erforschbarkeit des eigenen Geistes und seiner Welterfahrung.
Sokratische Vernunft geht über egozentrische Perspektiven hinaus
Doch was ist daran „Vernunft“ und nicht „Rationalität“? – Wer von dieser Differenz spricht, muss zuerst „Rationalität“ erklären.
Worauf verweist „Rationalität“ im Dressur- und Rattenbeispiel? Offenbar auf Zwang plus Nachahmung. Zwang: durch Zufügung unerfreulicher Dinge wie Stromschläge oder Zusatzrunden auf dem Kasernenplatz; Nachahmung: als unentwegte Wiederholung vorgegebener Muster; vom Knüpfen spezieller Knoten in Bergseile bis zum Eingeübt-Haben bestimmter Wort- bzw. Fütterungsregeln.
„Lernen“ ist dann der Erwerb abrufbarer Fähigkeiten; die entsprechende „Lehre“ eine Form rigoroser Einwegkommunikation: A sagt, was B beherrschen muss, um keine Sanktionen zu erleiden (was, wie schon gesagt, durchaus nützlich sein kann).
Rationales Handeln ist zweckdienliches, möglichst effizientes Produzieren zielgenauer Ergebnisse. Über die Ziele selbst und ihre Wertigkeit nachzudenken, gehört nicht zum Pensum. Rationalität ist deshalb die Eigenschaft einer Lehrpraxis, die doppelt kodiert ist: erstens bestimmt durch das Gefälle zwischen fraglos Lehrenden und folgsam Lernenden (die vielleicht über das Wie, aber nicht über das Warum ihrer Lektionen sinnieren sollen); zweitens (wegen dieses Gefälles) durch die Unmöglichkeit, einen Forschungsprozess in Gang zu setzen, der alle Beteiligten gleichermassen zu motivieren vermag.
Genau dies bewirkt aber die sokratische Vernunft.
Sokrates lehrt, ohne Zweifel. Aber er tut dies als einer, der nicht von der Überlegenheit seines Wissens, sondern von den Impulsen seines eigenen Nicht-Wissens ausgeht; von einer Situation, die ihn selber wie die Gesprächspartner in einen permanenten Forschungsprozess verwickelt; in eine Bewegung, die immer wieder beides freisetzt: erste Antworten und nächste Fragen.
Sokrates’ Lehren als gemeinsames Lernen und als dialogisch-diskursive Bewegung ist Selbstaufklärung und Lehrleistung in einem. Vernünftig ist dies (und eben nicht nur rational), weil es die Grenzen rationaler Praktiken als solche ebenso sichtbar macht, wie es sie überschreitet und dabei das hierarchische Lehrer/Schüler-Verhältnis zur Disposition stellt: indem es sich und seine Mitspieler an den gemeinsamen Geist erinnert, der all jene verbindet, die überhaupt denken und sprechen können.
So deckt es zwischenmenschliche Erkenntnischancen auf, die das verbindend Menschliche sichtbar machen und über egozentrische Perspektiven hinausweisen. An die Stelle von Herrschaft setzt es Einfühlung; statt Zwang stiftet es aufgewecktes Erleben und an den Platz der Nachahmung rückt es die erfüllbare Hoffnung auf die kommunikative Kompetenz der anderen.
Wie man zum „Aufwecker der Seele“ wird
Sokratische Lehre ist keine Rattendressur, in vielem aber mit Moglis Erziehung durch den klugen Panther verwandt. Zum „Aufwecker der Seele aus dem tiefen Schlaf der Gewohnheit“ wird nur, wer sich in sein Gegenüber einfühlt. Darum vergisst Bagheera auch nicht, dass er kein Mensch ist; kein Wesen, das sich auf ganz besondere, buchstäblich eigen-artige Weise selbst zu übersteigen vermag: im Vollzug jener kritischen Reflexionen, die Sokrates so meisterlich von sich auf seine Mitmenschen zu übertragen versteht (sofern diese nicht davor zurückschrecken, den Schlaf der Gewohnheit zu verlassen).
Lehren verlangt viele Fähigkeiten (wozu auch, ich wiederhole mich, die Vermittlung des Knotenknüpfenkönnens zu zählen ist).
Unter verschiedenen Hinsichten habe ich das zu zeigen versucht. Am ausführlichsten wurde über Sokrates’ „Zitterfisch-Verfahren“ gesprochen. Seinen Impuls – die sokratische Vernünftigkeit, der Wunsch nach Selbstdenken, nach Menschlichkeit und nach hellwacher Zuversicht -– darf man für das allerbeste Motiv pädagogischen Tuns halten.
*) Der „Menon“ ist unter den platonischen Frühdialogen der wichtigste. (Deutsch in der Übersetzung von F. Schleiermacher)