Auch Hannah Arendt wird nun Rassismus vorgeworfen. Die Arendt-Kennerin Marie Luise Knott erforscht an Hand eines neu entdeckten Briefes die Hintergründe eines inkriminierten Artikels von Hannah Arendt – und regt zum Nachdenken an über den Rassismus-Vorwurf.
«Benennt die Ernst-Moritz-Arndt-Strasse um» lautete die Petition. Da dieser Schriftsteller und Historiker des 19. Jahrhunderts ein lauter Antisemit und Franzosenhasser gewesen ist, sollte er ersetzt werden – natürlich durch eine Frau. Hannah Arendt lautete der Vorschlag, schon wegen des hübschen Gleichklanges, von Arndt zu Arendt. Doch zur bereits heftigen Diskussion um Arndt kam aus den sozialen Medien bald auch der Einspruch gegen Arendt: «Benennt die Hannah-Arendt-Strasse um», hiess es da: Arendts Äusserungen zur US-Bürgerrechtsbewegung seien «gruselig», habe sie doch den Afroamerikanern selbst die Schuld am Rassismus zugeschoben. Tatsächlich ist die Frage, ob, inwiefern, wo und wie Hannah Arendts Denken rassistisch sei, seit einigen Jahren Gegenstand von wissenschaftlichen Konferenzen, Artikeln und Büchern. In Leipzig jedenfalls tagt nun eine Kommission.
«Dear Mr. Ellison»
Gerne würde man den Kommissions-Mitgliedern das neue Buch von Marie Luise Knott empfehlen. Knott, die sich als Herausgeberin und Kritikerin seit Jahrzehnten mit Hannah Arendt beschäftigt, verweist die schrille Diskussion um Arendts angeblichen Rassismus zunächst in eine Anmerkung mit den wichtigsten Literaturhinweisen. In den Mittelpunkt ihres Essays zu diesem Themenkomplex stellt sie dagegen eine scheinbare Marginalie: die Kopie eines Briefes von Hannah Arendt an den schwarzen Schriftsteller Ralph Ellison, die sich im Arendt-Nachlass erhalten hat. Es ist jene Art von schwachem, aber lesbarem Durchschlag auf dünnem Papier, wie er bei maschinengeschriebenen Briefen damals routinemässig mit Hilfe eines Kohlepapiers hergestellt wurde, um dann in einem Korrespondenzordner abgelegt zu werden.
«Dear Mr. Ellison», schrieb Hannah Arendt – will heissen: diktierte sie wohl ihrer Sekretärin – am 29. Juli 1965 an den berühmten Autor des Romans «Invisible Man». Ironischerweise wohnte dieser damals an demselben Riverside Drive am Hudson River in New York wie sie selbst, Arendt mit Hausnummer 370 im Quartier der jüdischen Intellektuellen, Ellison mit Hausnummer 730 weiter nördlich im Zentrum der schwarzen Harlem Renaissance. Weiter heisst es im Brief: «Bei der Lektüre von Robert Penn Warrens «Who speaks for the Negro» stiess ich auf das sehr interessante Interview mit Ihnen und las Ihre Bemerkungen zu meinen früheren Überlegungen zu «Little Rock». «Sie haben völlig Recht.» Sie, also Arendt, habe seine Idee vom «Ideal des Opfers» nicht verstanden und dieses Nichtverstehen habe sie «in eine völlig falsche Richtung gelenkt». Die Kritik ihrer liberalen Freunde habe sie damals nicht weiter beschäftigt: «Aber ich wusste immer, dass ich irgendwie falsch lag, und hatte das Gefühl, ich hatte die nackte Gewalt, die elementare körperliche Angst nicht begriffen.» Auf Grund seiner Bemerkungen erkenne sie jetzt, «dass ich die Komplexität der Lage nicht verstanden habe. With kind regards, Sincerely yours.»
Ein Blatt, 20 Zeilen. Weder ist eine Antwort Ellisons erhalten, noch findet sich das Original von Arendts Brief in seinem Nachlass. Was also hat es auf sich mit diesem rätselhaften Brief, in dem Hannah Arendt offensichtlich eine Haltung korrigiert, die sie einige Jahre zuvor eingenommen hatte?
In 17 sorgfältigen, gut recherchierten «Hinweisen» umkreist Marie Luise Knott diesen Brief, erhellt Ereignisse und Debatten der damaligen Bürgerrechts-Zeit, Biografie und Werk von Ralph Ellison ebenso wie einen interessanten Briefwechsel Arendts mit James Baldwin, und analysiert die gegensätzlichen Standpunkte dieser «jüdisch-schwarzen Begegnung» und die so verschiedene biografische Erfahrung – all dies vor dem Hintergrund der aktuellen Rassismus-Debatte. Das mache die Sache nicht einfacher, schreibt Knott. «Doch über aktuelle Themen nachzudenken, ohne die historische Dimension mitzudenken, ist unmöglich.»
Neun Jugendliche in Little Rock
Diese ist folgende: Im September 1957 musste in Little Rock, der Hauptstadt von Arkansas, die Nationalgarde einschreiten, weil ein aggressiver weisser Mob neun schwarze Jugendliche daran hindern wollte, die öffentliche High School zu betreten, wie es ihnen nach dem berühmten Urteil «Brown v. Board of Education» von 1954 zustand. Die Bilder vom Spiessrutenlauf dieser stolzen Jugendlichen gingen um die Welt. Der schwarze Schriftsteller James Baldwin, der damals in Paris lebte, beschrieb später den «unbeschreiblichen Stolz, die Spannung und Angst» im Gesicht eines schwarzen Mädchens, seine eigene Wut und seine Scham: «Einer von uns hätte ihr beistehen sollen.»
Auch Hannah Arendt beeindruckte offenbar dieses Gesicht, doch sie zog ganz andere Schlüsse: In einem Artikel, der zwei Jahre später unter dem Titel «Reflections on Little Rock» in New York erschien, kritisierte sie schwarze Eltern, die ihr Kind einem weissen Mob aussetzten, und ebenso die schwarzen Bürgerrechtsorgane. Warum nur, fragte sie, rücke diese «die Diskriminierung im Sozialen, also auf dem Arbeits- und Wohnungsmarkt und im Bildungswesen in den Vordergrund», statt sich für politische Gleichheit, also für die Durchsetzung des Wahlrechts und der Menschenrechte einzusetzen, etwa für die Aufhebung des gesetzlichen Verbotes von Mischehen? In den Schulen dagegen stand ihrer Meinung nach kein politisches Grundrecht auf dem Spiel.
Ihr Standpunkt wurde damals nicht nur von Schwarzen – wie Ralph Ellison –, sondern auch von weissen Liberalen scharf kritisiert, die (jüdische) Zeitschrift «Commentary» lehnte die Publikation des Artikels ab. Arendt gelang es erst 1959, ihn in der Zeitschrift «Dissent» doch noch zu veröffentlichen. Gleichzeitig führt gerade dieser Artikel tief in Arendts Denken, wie sie es gerade in ihrem Buch «Vita Activa», erstmals erschienen 1958, dargelegt hatte.
Aus der Geschichte der Juden hatte Arendt gelernt, dass es allein auf rechtliche und politische Gleichheit durch das Gesetz und vor dem Gesetz ankam. Meinungen, Vorurteile, gesellschaftliche Diskriminierungen und Snobismen aller Art liessen sich ihrer Ansicht nach nicht per Gesetz ändern, da sie, ähnlich wie das Klatschen, offenbar einem menschlichen Bedürfnis entsprängen – doch sollte all dies deshalb auf den Bereich des Gesellschaftlichen und Privaten beschränkt bleiben. Vorurteile liessen sich allenfalls im Miteinander verändern, aber niemals per Gesetz abschaffen. Vor Vorurteilen, so ihr berühmtes Diktum, sei man «nur auf dem Monde» sicher. Kinder, und zu diesen gehörten im Falle von Little Rock für Arendt offenbar auch 16-jährige Jugendliche, sah Arendt nicht als politische Subjekte, sondern als «Neuankömmlinge», die Geborgenheit brauchen und keinesfalls den Kämpfen der Erwachsenen ausgesetzt werden dürften.
Kindheit in Königsberg
Offensichtlich hatten die angstvollen Gesichter der Jugendlichen von Little Rock in Arendt die Erinnerung an ihre eigene Kindheit in Königsberg wachgerufen. Dafür, wie die jüdische Schülerin Hannah auf antisemitische Anfeindungen reagieren sollte, hatte ihre Mutter klare Regeln aufgestellt: Gegen Hänseleien von Kindern hatte sie sich selbst zu wehren. Kamen aber solche Bemerkungen von Lehrern, hatte sie umgehend die Schule zu verlassen und nach Hause zu kommen, worauf ihre Mutter einen Beschwerdebrief schrieb. Als Schülerin fühlte sich Arendt dadurch beschützt, die Sache war nicht mehr ihr Problem und sie genoss den freien Schultag (so erzählt im berühmten Interview mit Günter Gaus).
Den grossen Unterschied zu Little Rock – dass nämlich einem jüdischen Kind das Gymnasium in Königsberg selbstverständlich offenstand – bedachte sie in Ihrem Little-Rock-Artikel offensichtlich ebenso wenig wie die nackte Gewalt, denen sich Schwarze seit dem Bürgerkrieg trotz formaler politischer Rechte schutzlos ausgesetzt sahen, weil diese Rechte vor Gericht nicht durchsetzbar waren. Das Nichtbedenken der nackten Gewalt, das Arendt im Brief an Ralph Ellison eingesteht, deutet auf ein Umdenken hin – ein Umdenken allerdings, das Hannah Arendt auch in späteren Schriften oder Briefen nie mehr thematisierte.
Hannah Arendt sah in der Sklaverei «das eine grosse Verbrechen Amerikas»; mit Absicht reiste sie nie in die Südstaaten. Sie attackierte das Verbot der Mischehen, das damals in 29 Gliedstaaten noch bestand, als das «schändlichste Gesetz der Südstaaten» und hatte absolut kein Verständnis für das Zögern der Bürgerrechtsbewegung in diesem Bereich (diese scheute sich tatsächlich, an den Mythos vom animalischen Schwarzen zu rühren, der tief in allen Köpfen sass). Arendt betonte, dass nicht gesellschaftliche Diskriminierung, sondern die Rassengesetze die Verlängerung des Verbrechens darstellten, das mit der Gründung dieses Landes einherging. Dass die Südstaaten-Politik den politischen Kampf seit dem Bürgerkrieg ins Soziale verschoben habe – Segregation, Jim Crow Gesetze usw. – hielt Arendt für verhängnisvoll. Und natürlich lehnte sie später auch die ersten Massnahmen von «Affirmative Action» im Bereich Bildung (nachholenden Gerechtigkeit durch Bevorzugung benachteiligter Minderheiten) als gefährliche Verwässerung von Standards ab. Auch scheint ihre Kenntnis von und ihr Kontakt zu schwarzen Intellektuellen beschränkt gewesen zu sein. In ihrer Bibliothek stand kein Buch von Ralph Ellison.
Dass es die politische Macht der Schwarzen zu stärken galt, sah Arendt durchaus. Heroische Aktionen schienen ihr jedoch sinnlos. Vielmehr forderte sie «ein Recht auf zivilen Ungehorsam» in der Verfassung, und zwar als Garant für die politische Teilhabe aller im amerikanischen Zweiparteien-System unterrepräsentierten Minderheiten. Sie verlangte deshalb ein «Equal Rights Amendment» für Schwarze als Verfassungszusatz, den sie dann auch gleich selbst entwarf!, wie es ihn ja seit 1972 in Bezug auf die «bei weitem nicht so schlimme Diskriminierung gegen Frauen» bereits gebe.
Ist das nun «gruseliger» Rassismus? Natürlich entspricht Arendts Sicht auf rassistische Vorurteile der heutigen Diskussion in keiner Weise. Dazu kommt ihre entschiedene Ablehnung jeglicher «Kollektivschuld» der weissen Amerikaner, die nur die wirkliche Schuld begrabe und einen «Rassismus mit umgekehrten Vorzeichen» darstelle – ein Denken, das heutige Verfechter eines strukturellen, unbewussten Rassismus entsetzen muss. Man mag es auch als eigentümlich empfinden, dass eine rassistisch verfolgte Jüdin, die in ihrer Studie zu Rahel Varnhagen die lebenslange Wunde der «Schande der Geburt» und der permanenten Abwertung so eindringlich aufzeigte, letztlich wenig Interesse aufbrachte für die Anliegen Schwarzer Amerikaner und die Bürgerrechtsbewegung. Immerhin gibt es dafür die Abbitte im Brief an Ellison.
Vieles mag mitspielen bei diesem fehlenden Interesse: zunächst die vorrangige Rolle, die Hitlers Aufstieg, das staatenlose Flüchtlingsdasein, der zweite Weltkrieg und die Shoah in Arendts Leben und Denken einnahmen; dann der weisse, jüdische Immigranten- und Intellektuellenkreis, in dem sie sich in New York bewegte; schliesslich die grosse Dankbarkeit gegenüber dem Gastland, das sie und ihren Mann 1941 als mittellose Flüchtlinge aufgenommen hatte. Doch man kann hier auch Marie Luise Knotts grossartige Charakterisierung dieser geradezu störrisch eigenwilligen Denkerin heranziehen: «So fragil ihre Denkwege, so kräftig für gewöhnlich ihr Urteilen.»
Rasse und Bürokratie
Nun basiert der Rassismus-Vorwurf an Hannah Arendt allerdings noch auf einem zweiten Text, den Marie Luise Knott in ihrem Buch nicht nur nicht behandelt, sondern leider nicht einmal erwähnt: Es geht um das 7. Kapitel in Arendts grossem Werk «Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft», das 1951 in englischer Sprache erstmals erschien. Hier beschreibt Arendt unter dem Titel «Race and Bureaucracy» das imperialistische Vorgehen in Afrika, vor allem in Süd-Afrika, im Unterschied zur Kolonisierung von Amerika, Australien und Asien. Wenn sie dabei Natur, Menschen und Kulturen beschreibt, die die Kolonisatoren in Afrika vorfinden, tut sie es in einer Sprache, die heute schier unerträglich zu lesen ist: Sie spricht von der «Gespensterwelt des schwarzen Erdteils», von «eingeborenen Wilden», die den Europäern «unverständlich blieben wie die Insassen eines Irrenhauses», von einer «überwältigend feindseligen Natur, welche in eine menschliche Landschaft zu verwandeln sich nie jemand bemüht» habe. Oder schreibt: «Was sie (die Schwarzen) von anderen Völkern unterschied, war nicht die Hautfarbe; was sie auch physisch erschreckend und abstossend machte, war die katastrophale Unterlegenheit oder Zugehörigkeit zur Natur, der sie keine menschliche Welt entgegensetzen konnten.»
Mehrere Male zitiert Arendt für ähnliche Aussagen den brutalen Elfenbeinhändler Kurtz aus Joseph Conrads Roman «Das Herz der Finsternis», erstmals erschienen 1899. Im Übrigen beruft sie sich für die Geschichte Süd-Afrikas und der Buren hauptsächlich auf den holländisch-stämmigen Historiker Cornelius William de Kiewit, der in Südafrika aufwuchs, in die USA emigrierte, 1941 eine grosse Geschichte Südafrikas veröffentlichte und in den Jahren, als Hannah Arendt ihr Buch recherchierte, an der Cornell University im Staat New York lehrte. Eine Analyse von Arendts Quellen wäre durchaus interessant, sie waren jedenfalls damals aktuell. Doch wie immer es damit stand: Es ist tatsächlich enttäuschend, dass eine Denkerin, für die das Selber-Denken zentral war, hier jene ignoranten und abwertenden Klischees unbesehen übernimmt, die schon im 18. Jahrhundert von Geistesgrössen wie David Hume, Kant, Montesquieu und Voltaire verbreitet wurden.
Fest stehen jedoch zwei Dinge: Sowohl die Aussagen zu afrikanischen Menschen und Kulturen als auch die Sprache, in der Arendt sie äussert, gehören heute zu jenem geradezu uferlosen Meer von Absurditäten, Skurrilitäten, Irrglauben, Spekulationen und schierem Blödsinn, von vollkommen unbegründeten Ideen und hirnrissigen Theorien, die europäische Denker und Geisteswissenschafter über Jahrhunderte zu Geschichte, Kultur und Wesen des Menschen und der Menschheit abgesondert haben, ein nach heutigem Verständnis und Wissen groteskes Universum der Irrtümer (an dem wir mit grosser Wahrscheinlichkeit auch heute noch weiterbasteln), und das nur ideengeschichtlich noch interessant ist.
Elemente der Schande
Doch ebenso klar ist ein Zweites: Nie hat Hannah Arendt Rassismus in irgendeiner Weise verharmlost oder mit dem leisesten Verständnis behandelt, geschweige denn gutgeheissen, weder in den USA noch in der europäischen Geschichte und Kolonialgeschichte. Im Gegenteil: Der Rassismus, den die europäischen Kolonialmächte als Instrument und Legitimierung ihrer Herrschaft sozusagen «erfanden», mit zahllosen Rationalisierungen untermauerten und im Zeitalter des Imperialismus zu einer Art Zenit an Gewalttätigkeit und Brutalität führten, ist ja gerade eines jener drei Elemente der totalitären Herrschaft Hitlers, deren Herkunft und Geschichte sie mit ihrem in den 1940er Jahren geschriebenen Buch erhellen will. «Die Elemente der Schande: Antisemitismus – Imperialismus – Rassismus» lautete ein früher Arbeitstitel des Buches, «Die drei Säulen der Hölle» ein anderer. Ein Grossteil von Arendts Denken und Schreiben gilt der Analyse, der Beschreibung und Erhellung des Rassismus, ob er nun als Antisemitismus, als kolonialistisches Herrschaftsinstrument oder als amerikanisches Rassengesetz daherkam.
Geradezu grotesk wird der Vorwurf des Rassismus für diese Schreiberin, wenn Hannah Arendt dann auch noch vorgeworfen wird, dass «mindestens 99 Prozent» der in ihren Bibliografien aufgelisteten Bücher von weissen Männern stammen, wie es die britisch-indische Autorin Priya Basil in einem WOZ-Beitrag unter dem Titel «War die deutsche Philosophin Hannah Arendt rassistisch» beklagt. Wo bitte hätte denn eine deutsche Forscherin, die sich als politische Philosophin verstand, in den 1940er und 50er Jahren in den USA nennenswerte wissenschaftliche Literatur von Frauen und Schwarzen zu ihrem Thema finden sollen?
Man muss sich doch fragen: Was eigentlich verlangen wir von historischen Autoren und Autorinnen, wenn wir sie so forsch an heutigem Wissen und Denken, heutiger Moral und sogar an heutigen Sprachgepflogenheiten messen – und dann für zu leicht befinden. Entspringt die grosse Enttäuschung, die Priya Basil als Verehrerin von Hannah Arendt nun plötzlich empfindet, da sie in einer historischen Tonaufnahme das N-Wort aus Arendts Mund vernimmt, nicht ganz einfach einer offenbar kolossalen und, dies vor allem, von jedem historisch-biografischem Wissen losgelösten, irgendwie «abstrakten» Idealisierung? Wie denn hätte Arendt die schwarzen Amerikaner nennen sollen, wenn nicht mit dem N-Wort, das damals nicht nur die «New York Times», sondern auch diese selbst für sich verwendeten.
Wohlfeile Retrospektive Indignation
In einem «Post-Scriptum» betitelten Essay nennt der französische Soziologe Pierre Bourdieu die «retrospektive Indignation» eine «von der Arbeit historischer Forschung befreite Geschichtsschreibung», die in Wahrheit aber «auch eine Form von Rechtfertigung der Gegenwart» sei. Und er zitiert Friedrich Engels, der (im Anti-Dühring) schrieb: «Es ist ziemlich leicht, über Sklaverei und dergleichen in allgemeinen Redensarten herzuziehen und einen hohen sittlichen Zorn über dergleichen Schändlichkeiten auszugiessen. Leider spricht man damit weiter nichts aus als das, was jedermann weiss, nämlich, dass diese antiken Einrichtungen unseren heutigen Zuständen und unseren durch diese Zustände bestimmten Gefühlen nicht mehr entsprechen. Wir erfahren damit aber kein Wort darüber, wie diese Einrichtungen entstanden sind, warum sie bestanden und welche Rolle sie in der Geschichte gespielt haben.»
Und von wegen Idealisierung: Arendt konnte schroff sein, geradezu arrogant, ihre Urteile waren oft ebenso eigenartig wie apodiktisch, der Verdacht einer gewissen Originalitätssucht drängt sich auf. Im Falle von «Eichmann in Jerusalem», ihrem Buch über den Eichmann-Prozess, brachte sie mit ihrer kalten Beurteilung der Judenräte die Juden weltweit gegen sich auf und blieb auf Jahrzehnte Persona-non-grata in Israel. Mit ihrer berühmten Einschätzung des Massenmörders Eichmann als «Hanswurst» und Bürokrat ohne jede Überzeugung lag sie vollkommen falsch, wie Zeugenaussagen aus Nazi-Kreisen in Argentinien, lange nach ihrem Tod, gezeigt haben. Die Idee, dass Demokratien im 20. Jahrhundert an einer romantisierenden Vision der griechischen Polis genesen könnten oder sollten, muss man zumindest als originell bezeichnen. Weder die historische noch die aktuelle Benachteiligung von Frauen interessierten Arendt einen Deut. Sie sei, was die Frauenrolle betreffe, eben etwas altmodisch, erklärt die kettenrauchende Philosophin Günter Gaus im berühmten Interview und lacht dazu.
Anne Applebaum: «Why we should read Arendt now»
Doch gibt es nicht gleichzeitig auch übergenug zu bewundern an Hannah Arendt, dieser ebenso klugen wie menschlichen Frau mit der tiefen Raucherstimme, hochgebildet, arbeitsbesessen, streitbar und eigensinnig, die keine Auseinandersetzung scheute, nebst Latein und Griechisch scheinbar die gesamte deutsche Dichtung im Kopf hatte, mit Selbstironie und Humor auftrat, sich Freundinnen und Freunden gegenüber ausserordentlich loyal, Mitflüchtlingen gegenüber immer hilfsbereit zeigte. Und die, dies vor allem anderen, eine lange Reihe von einzigartigen Essays und Büchern schrieb.
Zum Beispiel «Die Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft», zu dessen neuester Auflage die Politologin Anne Applebaum ein Vorwort schrieb, das am 17.März dieses Jahres in der Zeitschrift The Atlantic unter dem Titel «Why we should read Hannah Arendt now» erschienen ist.
Zwar entspreche Arendts Forschung dem modernen Stand des Wissens nicht überall, schreibt Applebaum, doch ihre Suche nach den Ursprüngen, die Prinzipien, die sie dabei leiteten und ebenso ihre pessimistischen Warnungen seien hochaktuell: «Nie war unsere Zukunft unvorhersehbarer, nie waren wir abhängiger von politischen Kräften, denen wir nicht vertrauen können, den Regeln des Common Sense und des Selbst-Interesses zu folgen, Kräften, die wie reiner Irrsinn erscheinen …» schrieb Arendt, im Jahr 1950. Vieles, was Arendt damals beschrieb, so Applebaum, sei in unserer heutigen Welt anders geworden, doch ihre Fragen blieben höchst aktuell: Wie kommt es, dass so viele Menschen der Propaganda nicht nur verfallen, sondern geradezu ein Bedürfnis zu haben scheinen, offensichtlichen Lügen zu glauben? Massen, die, wie Arendt damals schrieb, gleichzeitig «alles glauben und nichts, die denken, dass alles möglich und nichts wahr ist».
Arendt habe keine leichten Antworten für uns, lautet das Fazit von Applebaum, und schon gar keine politischen Rezepte. Dafür biete ihr Buch «Vorschläge, Experimente, verschiedene Denkansätze, um über die Verlockungen der Autokratie nachzudenken und über die verführerische Anziehungskraft ihrer Verfechter, mit denen wir in unserer eigenen Zeit zu kämpfen haben».
Angesichts ihres Dilemmas gegenüber Arendt spricht Priya Basil etwas resigniert von der «makelbehafteten, kompromittierten Brillanz» Arendts. Hannah Arendt, diese lebenslange Bewunderin der antiken Griechen, hätte vielleicht entgegnet, dass makellose Brillanz allenfalls Göttern, doch niemals den Sterblichen gegeben ist.
Marie Luise Knott: 370 Riverside Drive, 730 Riverside Drive. Hannah Arendt und Ralph Ellison. 17 Hinweise. Matthes & Seitz, Berlin 2022. 148 Seiten