Es sind stets die gleichen Muster, nach denen die politischen Spiele gespielt werden: Überbordende Staatsschulden zwingen die jeweils „verantwortlichen“ Politiker zu drastischen Sparmassnahmen. Diese Sparmassnahmen werden von einer Mehrheit zunächst gutgeheissen, weil es ja "so nicht weitergehen kann“. Die dann unweigerlich entstehenden Wut auf die „Spardiktate“ bereitet den Auftritt der Opposition vor. So ist es nur eine Frage der Zeit, bis die Sparer von der Regierungsbank auf die Oppositionsbänke geschickt oder gleich des Parlamentes verwiesen werden. Bei diesem Spiel wird die Kernfrage ausgeklammert: Funktioniert das System der Demokratie überhaupt noch?
Die Wahrheit kennen und Lager bauen
Der Philosoph Karl Raimund Popper hat in seinem zweibändigen Werk „Die offene Gesellschaft und ihre Feinde“ (1945) die bis heute geltenden Formeln für die Demokratie geprägt: Die Demokratie lebe davon, dass es möglich sei, schlechte Regierungen abzuwählen. Hinter dieser zunächst schlicht scheinenden Formel steckt Poppers wissenschaftstheoretisches Falsifizierungstheorem: Der Wahrheit, die wir als solche nicht direkt erkennen können, kommen wir allein dadurch näher, dass wir Irrtümer ausmerzen. Das ist die Arbeit der seriösen Wissenschaftler in Versuch und Irrtum.
Es gibt keine absolute Wahrheit. Deswegen polemisierte Popper gegen alle, die meinten, diese Wahrheit in irgendeiner Weise doch zu kennen: von Platon über Hegel bis zu Marx. Die vermeintlich absolute Wahrheit enthält das Gift des Totalitarismus. Wer sich im Besitz der Wahrheit wähnt, wird Lager bauen und guten Gewissens morden. Die Alternative dazu sah Popper in der „Stückwerk-Sozialtechnik“, um in nachprüfbarer und entsprechend korrigierbarer Weise Verbesserungen vorzunehmen. Und das Handeln der demokratisch legitimierten Regierungen wird in diesem Sinne von den Wählern kritisch verfolgt.
Der Hund und sein Wurstvorrat
Poppers „kritischer Rationalismus“ wirkt heute wie ein Werkzeug, das in der Politik nicht mehr angesetzt werden kann. Irgendwie greift es nicht mehr. Ist statt vom „Ende der Geschichte“ (Francis Fukuyama) vom „Ende der Demokratie“ zu sprechen? Dementsprechend gibt es zwar nach wie vor Wahlen und den Wechsel von Regierung und Opposition, aber das ändert nichts am fatalen Kurs: Schulden, Schulden, Schulden.
Wie neu ist dieses Problem eigentlich? Schon seit Jahrzehnten beobachten wir die Schwierigkeiten von Politikern, nachhaltig zu sparen. Vom ehemaligen bayerischen CSU-Politiker Franz Josef Strauss ist die Bemerkung überliefert, der Versuch, einen Politiker zum Sparen zu bringen, sei etwa so aussichtsreich wie einen Hund dazu zu erziehen, sich einen Wurstvorrat anzulegen.
Gewalt von oben
Etwas höflicher formulierte Kurt Biedenkopf, der inzwischen zum politischen Urgestein der Bundesrepublik Deutschland gehört, diese Einsicht: „Der Wille des Souveräns lässt sich nicht begrenzen.“ Eine Begrenzung könnte also nur von einer Instanz kommen, die vom Willen des Souveräns nicht direkt erreicht wird. Diese Instanzen sind supranational und haben ihren Sitz in Brüssel. Zeitweilig sah es so aus, als könne hier gelingen, woran man nationalstaatlich gescheitert war. Die Einhaltung der Maastricht-Kriterien hätte von dieser Superinstanz erzwungen werden können. Aber diese Möglichkeit wurde von Deutschland und Frankreich sofort annulliert.
Aber auch, wenn das Kind nicht schon ganz am Anfang in den Brunnen geschubst worden wäre, kann man fragen, wie Brüsseler Superinstanzen ihren Sparwillen in einzelnen Ländern und Regionen hätten durchsetzen wollen. Wenn die Souveräne ihrer Wut und ihrer Verzweiflung in Demonstrationen und Blockaden Ausdruck verleihen, entsteht eine Spirale der Gewalt. Am Ende stehen supranationale Polizeiverbände und Überwachungsorganisationen. Wie das aussieht und welche Atmosphäre dabei verbreitet wird, war im vergangenen November anlässlich des G-20-Gipfels in Cannes zu beobachten.
Wie Sparwille entsteht
Gibt es einen Trend dahin, dass der Wille des Souveräns grundsätzlich ausser Rand und Band gerät und nur durch Repression in geordnete Bahnen gelenkt werden kann? Pauschal lässt sich das nicht behaupten. Denn es gab in einzelnen Ländern immer wieder erfolgreiche Sparanstrengungen, etwa in Schweden. Auch in anderen Ländern und Regionen gelang es immer wieder, einen Konsens bezüglich der Sanierung der Staatsfinanzen herzustellen und aufrechtzuerhalten. Bemerkenswert ist dabei die Beobachtung, dass dort, wo Bürger unmittelbar vor Ort über die Finanzen ihrer Städte und Gemeinden abzustimmen haben, eher auf teure Projekte wie zum Beispiel Schwimmbäder verzichtet wird.
Daraus lässt sich schliessen: Wenn Verhältnisse überschaubar sind, besteht durchaus der Wille, mit den vorhandenen Mitteln rational zu wirtschaften. Fehlt diese Überschaubarkeit, geht auch die Rationalität verloren. Und für Finanzen und Wirtschaft gilt: Wenn Geld keine nachvollziehbaren Bezugspunkte mehr hat, sich von Leistung und Produktion abkoppelt, dann lässt sich in Bezug darauf nicht mehr rational argumentieren. Dann ist nicht mehr zu erklären, warum der akute Geldmangel an einer Stelle im gelebten Leben zu Einschränkungen zwingt, während das Geld an anderen Stellen, wo es ohne Bezug zur Realität nur noch um sich selber kreist, grenzenlos zu Verfügung steht.
Dass das Finanzsystem sich von der rationalen Beherrschung losgekoppelt hat, sagen inzwischen selbst die Experten. Politiker, die mangels Alternative verzweifelt versuchen, diesen wilden Tiger trotzdem zu reiten, bringen sich damit selbst um ihre Glaubwürdigkeit. Sie können nicht in Anspruch nehmen, noch länger „die Stimme der Vernunft“ zur Geltung zu bringen. Denn die Vernunft ist berechenbar, stetig und verlässlich. Die Politiker aber sind widersprüchlich, hektisch und atemlos.
Der Humus der Demokratie
Man sprach und spricht im Zusammenhang der Finanzkrise viel von „Ansteckung“. Damit ist die Gefahr gemeint, dass ein insolventer europäischer Staat andere ebenfalls in die Insolvenz reisst. Bislang ist das noch nicht geschehen.
Dafür hat sich eine andere Ansteckung ausgebreitet: die Ansteckung durch die Irrationalität. Die Irrationalität der „Finanzmärkte“, auf denen mit Geld wesentlich mehr Geld als mit rentabel produzierenden Unternehmen verdient wird, infiziert die Politik, indem sie sie schlicht und einfach vor sich hertreibt. Da ist es nur konsequent, dass die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel darüber nachdenkt, „wie die parlamentarische Mitbestimmung so gestaltet wird, dass sie trotzdem auch marktkonform ist.” - Mit „trotzdem auch“ bezog sie sich auf das Budgetrecht des Parlaments, das bei den heute gebotenen Reaktionszeiten auf „die Finanzmärkte“ zu viel Zeit in Anspruch nimmt.
Die moderne Demokratie, aber auch schon der antike griechische Vorläufer, ist im Zusammenhang mit der zeitgenössischen Aufklärung entstanden. Es war die Vernunft, der die Philosophen, Naturwissenschaftler und Schriftsteller Geltung verschafften. Entsprechend war es nur logisch, dass die Vernunft auch im Gemeinwesen herrschen sollte. Dazu war Demokratie notwendig. Die Rationalität ist der Humus der Demokratie. Ohne diesen Humus verkümmert sie, auch wenn nach wie vor gewählt und abgewählt wird.