
Jean-Philippe Rameaus Oper «Castor et Pollux», ein barockes Meisterwerk, ist in der Opéra Garnier in einer glanzvollen und mitreissenden Aufführung zu erleben. Der Dirigent Teodor Currentzis wird seinem Ruf als Genie und Enfant terrible vollauf gerecht.
Eigentlich geht es um Paris, um Jean-Philippe Rameau, um «Castor et Pollux» und um Teodor Currentzis. Ein kleiner Umweg über Luzern und Zürich sei aber zunächst erlaubt, nämlich zu Jean-Philippe Rameau und Teodor Currentzis zehn Jahre früher, im März 2015. Natürlich hatte man damals schon Abenteuerliches gehört über den griechischen Dirigenten, der ausgezogen war, um in Sibirien mit seinem Orchester musicAeterna die Klassikwelt umzukrempeln und der als genial, aber etwas exzentrisch galt. Den wollte man auch in der Schweiz sehen und natürlich vor allem hören.
Und Currentzis enttäuschte sein Publikum im vollbesetzten KKL nicht. Schon die Art, wie die Mitglieder von musicAeterna die Bühne betraten: im schummrig-düsteren Licht schritten sie musizierend wie ein Spielmannszug auf die Bühne, vorneweg Currentzis als Rhythmusgeber mit der Trommel. Es klingt geheimnisvoll, suggestiv, rau, aber auch schmelzend. Currentzis hat damals das Publikum mit seinen verführerischen Rameau-Klängen buchstäblich im Sturm erobert. Es war hinreissend.
Einen Monat später im Opernhaus Zürich: Die gleiche Begeisterung, das gleiche Programm, der gleiche Dirigent, aber ein anderes Orchester. Diesmal ist es La Scintilla, das Originalklang-Ensemble des Zürcher Opernhauses, das drei Tage mit Currentzis geprobt hatte. Und der Rameau-Abend gelang gleichermassen überwältigend wie in Luzern. «So exciting» sei es gewesen, sich auf Currentzis einzulassen und einen neuen Klang zu entdecken, sagte damals die Konzertmeisterin. Und Currentzis selbst konstatierte damals ganz cool, als sei es eine Selbstverständlichkeit: «Ja klar, Rameau ist eine Droge.»
«Utopia», Currentzis’ Chor und Orchester
Diese Droge hat Currentzis nun in Paris wieder verabreicht. In der prächtigen Opéra Garnier führt er «Castor et Pollux» auf. So wie Jean-Philippe Rameau die Oper 1737 geschrieben hat, also mit dem Prolog, der später oft gestrichen wurde. Schon Wochen vor der Premiere waren sämtliche Vorstellungen bis Ende Februar ausverkauft.
Als Orchester hat Currentzis «Utopia» mitgebracht, ein Kollektiv aus internationalen Spitzenmusikern, die Currentzis frei und je nach Bedarf eines Stückes zusammensetzt. Ebenso der Chor «Utopia» unter der Leitung von Vitaly Polonsky, der seit Jahren mit Currentzis zusammenarbeitet und in Russland bereits den Chor von musicAeterna auf ein phänomenales Niveau gebracht hat. Jetzt ist es der Utopia-Chor, der in Paris brilliert. Das Interesse an dieser Produktion und die Neugierde darauf, was Currentzis und sein Orchester «Utopia» daraus machen würden, waren immens.
Mehr Rock als Barock
Es ist eiskalt an diesem Premierenabend in Paris. Ein riesiges Werbeplakat für Skibekleidung vor verschneiten Bergen verdeckt die Fassade der Opéra Garnier. Das dick in warme Kleider eingepackte Publikum huscht aus dem lärmigen Feierabendverkehr rings um die Opéra ins Foyer. Die elegantesten unter den Damen sprechen russisch.
Und um es gleich vorwegzunehmen: Teodor Currentzis ist der Star des Abends. Radikal und engagiert präsentieren er und sein «Utopia»-Orchester mehr als drei Stunden Rameau in unglaublicher Lebendigkeit und Souplesse, in einer Geschmeidigkeit, die man insbesondere an diesem Ort nur mit dem französischen Wort umschreiben mag. Das reicht von Trauer und Melancholie in der Musik bis zu rasanten Tänzen, die eher rocken als sich barock zu geben. Wobei die Grenzen fliessend sind: Rock ist hier barock.
Man merkt, Currentzis und Rameau, das ist ein Dream-Team, und dies schon seit langem. «Ich bin ein absoluter Fan von Rameau», erklärte er gegenüber dem Magazin Vanity Fair. «Rameau begleitet mich seit meiner Jugend. Es ist der Klang des Lichts, le son de la lumière.»
Komplizierte Verhältnisse
Gleich zu Beginn: Kräftiger Begrüssungs-Applaus für Currentzis, der zügig vor sein Orchester «Utopia» tritt und sofort den Musikeinsatz gibt. Dann machen wir – Publikum, Interpreten und Musiker – uns gemeinsam auf den langen Weg durch die verschlungenen Höhen und Tiefen der griechischen Mythologie und treffen die Brüder Castor und Pollux.
Castor ist sterblich, Pollux – als Sohn Jupiter – unsterblich, und beide sind in Télaïre verliebt, die ihrerseits aber Castor bevorzugt. Castor wird ermordet, noch bevor die Opernhandlung beginnt. Pollux möchte den Bruder aus dem Totenreich befreien, müsste dafür aber auf die eigene Unsterblichkeit verzichten. Er ist hin- und hergerissen zwischen brüderlicher Loyalität zu Castor und seinem Verlangen nach Télaïre. Jupiter höchstpersönlich regelt die komplizierten Familien- und Liebesverhältnisse, indem er Castor und Pollux beide unsterblich macht und sie im Sternbild der Zwillinge verewigt.
Für die Regie hatte man den Amerikaner Peter Sellars engagiert, mit dem Currentzis bereits Purcells «Indian Queen», Mozarts «Idomeneo» und «La Clemenza di Tito» an den Salzburger Festspielen gemacht hat. Er habe «Castor et Pollux» inszenieren wollen, weil das Werk die grossen Fragen der Menschheit betreffe, sagt Peter Sellers in einem Video der Pariser Oper. «Es geht darum, eine zerbrochene Gesellschaft wieder zu vereinen und eine neue Generation zu bilden», so Sellars. Alles drehe sich um brüderliche Liebe, Opferbereitschaft und Loyalität.
Ergreifende Klänge
Dreieinhalb Stunden dauert die musikalische Reise voller schicksalsschwerer Verstrickungen zwischen Leben und Tod und sie wird begleitet von betörender Musik und grossartigen Gesangsstimmen. Reinoud van Mechelen singt den Castor, Marc Mauillon den Pollux. Die von allen begehrte Télaïre wird von Jeanine De Bique mit sensationeller Stimme und grosser Hingebung verkörpert. Man leidet mit ihr in der Rolle und man ist überwältigt von dieser Sängerin, die ursprünglich aus Trinidad stammt.
Jeanine De Bique verdreht nicht nur Castor und Pollux den Kopf, sondern betört auch das Publikum, insbesondere mit der Arie «Tristes apprêts», einem der ergreifendsten und auch bekanntesten Stücke dieser Oper. Ganz zart, ganz leise verschmilzt De Biques Stimme mit dem ebenso sirrenden Klang des Orchesters und das Publikum wagt kaum noch zu atmen. In Zürich hat Jeanine De Bique übrigens vor knapp zwei Jahren in der zeitgenössischen Oper «Lessons in love and violence» genauso brilliert wie nun mit Rameau in Paris. Ebenfalls gut bekannt in Zürich: Die französische Mezzosopranistin Stephanie d’Oustrac als Phébé, also der Schwester der Télaïre, mit samtiger, dunkler und kräftiger Stimme.
Unterwelt am Himmel
Während das Publikum von der Musik völlig hingerissen ist, hält sich die Begeisterung über Peter Sellars Inszenierung in Grenzen. Wenn sich in diesem prächtigen Opernhaus der Vorhang hebt, landet das Publikum in der schäbigen Welt der Banlieue. Alles ein bisschen heruntergekommen, ein paar Küchenmöbel, ein ausgeleiertes Sofa, mitten im Raum eine Dusche. Darüber wölbt sich das Universum, der Blick geht in die himmlische Unendlichkeit. Sternbilder ziehen vorüber, Wolken bäumen sich auf, als riesige Projektion, die sich ständig verändert: Vom Sternenhimmel geht es zum Périphérique, der nächtlichen Stadtautobahn, zu Hochspannungsmasten und wieder zurück zum Firmament. Alles düster und schwarz-weiss, eine Art Unterwelt am Himmel. Immerhin ist es doch der Ort, wo Castor und Pollux der Mythologie zufolge am Schluss in der Unsterblichkeit vereint sind, im Sternbild der Zwillinge.
Auch die Kostüme sind alles andere als prächtig barock: Street Style, Schlabberlook und Turnschuhe. Letztere können die Tänzer allerdings gebrauchen. Schon Rameau hatte Tanzszenen in seiner Oper eingebaut, die «opéra ballet» erfreut sich vor allem im französischen Theater grösster Beliebtheit. Nur sieht man in dieser Inszenierung keine Ballerina, sondern stattdessen eine Gruppe Flexdancer in der Choreographie von Cal Hunt aus New York. Muskulös und grimmig, also toxisch männlich, sehen sie aus wie Typen einer Gang aus Brooklyn und Paris. Nachts möchte man ihnen nicht auf der Strasse begegnen, aber ihre Tanzeinlagen sind kraftstrotzend und voller Tempo, irgendetwas zwischen Break Dance und Schlägerei.
Es ist atemberaubend und faszinierend. Die meisten dieser Tänzer hätten Rameau nicht gekannt, erklärt Currentzis im Interview mit Vanity Fair. Als er aber mit dem Orchester zu spielen angefangen habe, seien sie total erstaunt gewesen und hätten alle gesagt: «Das ist ja phantastisch!» Und, ja, wer weiss, vielleicht werde Rameau ja der neueste angesagte DJ in Brooklyn.
Zunächst aber ist es Currentzis, der in Paris angesagt ist. Der Schlussapplaus war überwältigend und lang. Ein paar Buhs für den Regisseur sind schliesslich im Jubel für Currentzis untergegangen. Wie angefixt ist das Publikum in die eiskalte Pariser Nacht hinausgetreten. Rameau als Droge – da ist was dran.
Opéra Garnier Paris
Jean-Philippe Rameau: Castor et Pollux
bis 23. Februar 2025