Mit einem Gewaltmarsch von 3600 Kilometern ist es Rahul Gandhi gelungen, ein neues politisches Profil zu gewinnen. Es zielt weniger auf den Sturz Narendra Modis als auf die Leerstelle, die dieser einmal hinterlassen wird.
Sein weisses T-Shirt, die Sneakers und ein Schweisstüchlein, adrett um den Hals geknöpft, geben dem Mann ein Flair von Jugendlichkeit. Wenn da nur das Gesicht nicht wäre, mit einem grauen Bart, der in drei Richtungen austreibt. Ist er ein Holzfäller? Oder ein Swami? Oder ein Politiker, der verzweifelt dabei ist, ein neues Image zu finden – eins, das endlich passt?
Der Bart ist das wichtigste, das hat Rahul Gandhi von seinem übermächtigen Widersacher Narendra Modi gelernt. Auch dieser musste, als er 2014 seinen Job als Premierminister Indiens antrat, ein neues Image finden – sanfter, weniger hemdsärmelig, ein bisschen väterlich. Die erste Anprobe war ein Reinfall gewesen – Designer-Brille, Massanzug, Montblanc-Füller, am Handgelenk die berühmte «Movado» mit dem schwarzen Zifferblatt.
Ein geschleckter «Suit-Boot»-Premierminister sei das, hatte Rahul Gandhi gehöhnt. Er hatte die Lacher auf seiner Seite, selbst die Troll-Armada, die Modi geholfen hatte, an die Macht zu kommen. Plötzlich trug er nur noch das indische Kurta/Pajama-Ensemble, auf dem Haupt thronte ein farbiger Turban. Und er liess sich einen Bart wachsen, ungefärbt-weiss, in Asketen-Länge.
«Schwachkopf»
Die Massanzug-Spott verebbte. Stattdessen schossen die Likes in die Höhe, die den Wahlverlierer Rahul aufs Korn nahmen. Modi hatte nicht nur die Wahlen gewonnen, die Kongresspartei hatte unter Gandhis Führung eine schwere Niederlage erlitten. Gandhi war ein schlechter Verlierer. Er dankte als Parteipräsident ab, schmollte, machte sich rar. Modi und sein Adlat, Innenminister Shah, nannten ihn «Pappu», Schwachkopf, oder einfach «Baba» – so benennen die Kindermädchen in besseren Familien ihr (männliches) Mündel.
Die fünf Jahre von Modis erster Regierungszeit boten genug Schwachpunkte, um ihn im Wahlkampf 2019 herauszufordern: Die Wirtschaft schwächelte, die Demonetisierung hatte der Korruption Vorschub geleistet, statt sie auszurotten, und sie stiess ungezählte Millionen Familien wieder unter die Armutsschwelle.
Doch mit Modis Mix von väterlichem Bart und gereckter Faust, mit Yoga-Posen für die Weltöffentlichkeit und Hasstiraden auf den Gegner errang er für die BJP einen historischen Wahlsieg. Einmal mehr war es dem Kongress nicht gelungen, eine solide Oppositionsallianz zu zimmern und dem Wähler programmatische Alternativen aufzuzeigen.
Aushebelung der Bürgerrechte für Muslime
Dann begann die Regierung, mit dem Polster einer parlamentarischen Zweidrittelsmehrheit im Rücken, ihre radikale Umgestaltung der indischen Republik. Innenminister Shah setzte zu einer gesetzlich sanktionierten Aushebelung der Bürgerrechte für Muslime an; Kaschmir verlor seinen Status als gleichberechtigter Bundesstaat; die fundamentalen Persönlichkeitsrechte wurden mithilfe von Sicherheitsgesetzen immer dreister gestutzt.
Es war ein Weckruf für Rahul Gandhi: Wenn er dieser Herausforderung aus dem Weg ging, war es für das Indien der Gründerväter geschehen – und für ihn als Politiker. Warum nicht aus der zerlöcherten Phalanx gegen Modi ausbrechen und ihn mit einem unerwarteten Flankenangriff aus der Fassung bringen?
Gandhi wählte ein altes Stratagem demokratischer Politik: Mit einer «Yatra» – einer Pilgerschaft – würde er den direkten Kontakt mit dem Stimmvolk suchen. Ein mehrmonatiger Marsch von Süden nach Norden würde das ganze Land in den Blick nehmen – und ihn in den Schlagzeilen halten. Und es würde keine «Rath Yatra», wie sie Modi selber einmal, als RSS-Aktivist, für mächtige BJP-Politiker organisiert hatte, nämlich in einer Riesen-Kolonne von Fahrzeugen (Raths). Mit seinem Fussmarsch über 3600 Kilometer würde er den Beweis liefern, dass er nicht das verwöhnte Muttersöhnchen war, als das er verspottet wurde.
«Pilgerzug für ein geeintes Indien»
Der Marsch sollte auch nicht als Wahlfeldzug konzipiert sein. Für ein derart symbolträchtiges Unternehmen – man denke an Mahatma Gandhis Salz-Marsch – musste ein noblere Zielsetzung gefunden werden. Statt Lokalpolitikern seiner Partei den Rücken zu stärken würde er anstelle der polarisierenden Hass-Rhetorik der «Hindutva»-Politik an die einigende Kraft der Toleranz und Diversität Indiens appellieren. Es sollte eine Bharat Jodo Yatra werden – ein «Pilgerzug für ein geeintes Indien».
Der Marsch begann am 7.September 2022 an der Südspitze Indiens und wand seinen Weg durch dreizehn Bundesstaaten. Rechtzeitig für den 75. Todestag Mahatma Gandhis endete er 146 Tage später am 30.Januar in Srinagar, der Hauptstadt Kaschmirs.
Die Kongresspartei mag in einem zentralen demokratischen Messwert – der Zahl der Parlamentssitze – beinahe zur Bedeutungslosigkeit geschrumpft sein. Sie war aber lange genug Indiens einzige nationale Partei, um bis heute über eine flächendeckende Organisationsbasis von Bezirks- und Dorf-Komitees zu verfügen. Mit deren Hilfe konnte sie sicherstellen, dass die «Pilger» sich aufs Gehen und Rahul auf spontane Ansprachen, Kranzniederlegungen, Besuchen von Tempeln und Moscheen (oder alten Freiheitskämpfern) konzentrieren konnte.
Ein Hauch von Askese
Für Gandhi und die rund dreihundert ständigen Begleiter war eine Lastwagenkolonne mit 68 Containern unterwegs – zum Schlafen, Arbeiten, Kochen. Mit jedem Tag stiessen neue Teilnehmer hinzu. Protestgruppen mit ihren eigenen Anliegen formierten sich in der Peripherie des Pilgerweges und schlossen sich mit dem Hauptharst zusammen. So waren fast immer mehr als eintausend Leute unterwegs; und die Zahl konnte auf über 20’000 anschwellen. Lokalkomitees sorgten jeden Tag dafür, ein warmes Mittagsmahl für 30’000 Menschen zuzubereiten.
Bereits am ersten Tag begann Gandhi, sich den Bart wachsen zu lassen. Das Gesicht war aber das Einzige, das sich veränderte. Jeden Tag trug er ein weisses T-Shirt, nicht nur in der südindischen Hitze, sondern auch bei Eis und Schnee, die seinen Zug am Eingang des Kaschmirtals erwarteten.
Dieses nüchterne Erscheinungsbild zielte natürlich darauf, seiner medialen «Persona» einen Hauch von Askese zu geben, mit einem Schuss Jugend und Sportlichkeit. Ohne Narendra Modi zu nennen war sie darauf angelegt, einen Kontrapunkt zu den prächtig orchestrierten Triumphzügen des Premierministers im goldenen Ornat zu setzen. Und statt sich wie dieser vom hautnahen Kontakt abzuschotten, verschwand Gandhi manchmal in der Menge, statt Lautsprecher-Staccato hörte er Leuten zu.
Respektiert – aber nicht viel mehr
Mit denselben Routinen über 146 Tage scheint es Gandhi tatsächlich gelungen zu sein, eine alternative Persona zu schaffen: ein bedächtiger, bodenverhafteter Demokrat, dem der Bonapartismus Modis suspekt ist. Sie wird, da sind sich die Experten einig, nicht genügen, um Modi gefährlich zu werden. Umfragen während des Marsches bestätigten dies. Rahul Gandhi wird ernst genommen, respektiert – aber nicht viel mehr. Noch immer sehen doppelt so viele Inder in Modi den bestmöglichen Lenker des Staats. Aber immerhin: Knapp dreissig Prozent nennen dafür Gandhi.
Wird dies der zerstrittenen Opposition einen Ruck geben, um ihn als gemeinsamen Kandidaten und Herausforderer Modis zu akzeptieren? Wird die Kongresspartei von Gandhis neuem «Avatar» profitieren? Dies werden die heuer anstehenden Regionalwahlen in neun Bundesstaaten zeigen. Es ist eine beinahe historische Chance für die Partei, denn in Provinzwahlen geht es meist um regionale Themen, nicht um die Sicherheit der Nation, als deren Garant Modi anerkannt wird. Gewinnt sie einige Teilwahlen, könnte dies die Ausgangslage für die Parlamentswahl von 2024 verändern.
Zumindest könnte sie die Schmach des letzten Urnengangs auswetzen, als der Kongress 53 Sitze gewann, ein Sechstel der BJP. Es gibt Kongresspolitiker, die bereits an die «Nach-Modi-Zeit» denken – mit der Frage, wie stark die BJP ohne ihren Superstar als Regierungspartei überleben wird. Je länger Modi auf dem Thron sitzt, desto erdrückender wird sein Machtanspruch – und desto mehr werden Regionalfürsten und Parteikader, Unternehmer und Spitzenbeamte zu Wasserträgern. Wer es wagt, ein eigenes Profil zu zeigen – etwa der Verkehrsminister Gadkari – wird sofort zur Zielscheibe der Twitter-Trolls.
Eins hat Rahul Gandhi bereits erreicht: Der «Baba»-Schmäh ist inzwischen fast verstummt. Als er dem Innenminister kürzlich trotzdem wieder entfuhr, lautete eine der vielen Twitter-Kommentare darauf sinngemäss so: «‘Baba’ ist bekanntlich ein Ausdruck aus der Sprache der Kindermädchen. Können wir daher annehmen, dass Herr Shah Rahul Gandhis Kindermädchen ist?»