Tour de France 1989, letzte Etappe, Zeitfahren in Paris. Das französische Kraftpaket Laurent Fignon lag im Gesamtklassement vorne, aber der Amerikaner Greg LeMond schlug ihn um 8 Sekunden. Was Fignon den Gesamtsieg kostete – die engste Gewinnmarge in der Geschichte der Grande Boucle!
Man spricht seither vom Zeitfahren-Drama. Und zwar spielte dabei die Physik auf eine bisher unbemerkte Weise eine entscheidende Rolle. 1989 war das Tragen des Helms noch nicht obligatorisch. Fignon fuhr unbehelmt, mit seiner auffälligen blonden Rossschwanzfrisur. Sie wurde ihm – so zumindest die Hypothese – zum Verhängnis.
Chris Cote und Mark Yu, zwei Techniker bei der Marke Spezialised, stellten im Windkanal die Szene nach. Sie konzentrierten sich dabei auf die Haare. Sie setzten einer Testperson von der Statur Fignons eine Perücke auf, die dem Rossschwanz des Franzosen entsprach, und massen die Zeiten bei bestimmten Geschwindigkeiten, mit und ohne Perücke. Die Auswertung der Daten liess den Schluss zu, dass Fignon LeMond um 4 Sekunden geschlagen hätte, wäre da nicht die Aerodynamik des Kopfschmucks Spielverderberin gewesen.
Kampf gegen den Luftwiderstand
Radfahren ist unter anderem ein Kampf gegen den Luftwiderstand. Dieser wächst quadratisch mit der Fahrgeschwindigkeit; und die Leistung, die man aufbringen muss, sogar in der dritten Potenz. Verdopple ich die Geschwindigkeit, muss ich das Achtfache an Watt aufbringen. Je schneller das Rennen, desto mehr Leistungsaufwand erfordert es. In den 120 Jahren Tour de France ist die Durchschnittsgeschwindigkeit in allen Etappen von 25 km/h auf 40 km/h gestiegen, um den Faktor 1,6. Der durchschnittliche Leistungsaufwand hat sich also vervierfacht (1,6 hoch 3). Die ganze Technologie des Rads hechelt dieser Steigerung nach. Wozu auch die Kleidung gehört, heute nachgerade eine zweite künstliche Haut.
Nun ist ja auch der Fahrerkörper mit von der Partie. Ich spreche hier vom Solofahrer. Er muss eine aerodynamisch optimale Position einnehmen, sein Körperprofil dem Luftstrom anpassen, das heisst primär, die Frontfläche verringern. Aber er kämpft gegen ein zusätzliches Hindernis: den Druckunterschied zwischen Vorder- und Hinterfront. Vorne ist der Druck etwas höher, weil der Rennfahrer die Luft durchtrennen muss. Sie strömt an ihm vorbei und in seinem Rücken – im Nachlauf – bildet sich eine Unterdruckzone aufgrund unregelmässiger Bewegungen, der Turbulenz. Sie «saugt» den Fahrer sozusagen immer etwas zurück.
Der Vergleich mit Golfbällen
Das Phänomen ist längst bekannt. Und das oberste Gebot lautet: Turbulenzreduktion. Weniger bekannt ist die Rolle der Behaarung. Sie trägt ja sowohl zur Vergrösserung als auch zur Unregelmässigkeit der Körperoberfläche bei. Frühere aerodynamische Studien, etwa von Golfbällen, zeigten, dass die Struktur der Oberfläche nicht vernachlässigbar ist. Golfbälle erreichen Geschwindigkeiten von fast 300 km/h. Dabei beobachtet man, dass Golfbälle mit kleinen Dellen weiter fliegen als völlig glatte; offenbar, weil sie den Luftwiderstand verringern. Deshalb sind heutige Golfbälle mit Grübchen – Dimples – versehen. Sie verursachen eine dünne Luftgrenzschicht um den Ball, die das Unterdruckgebiet in seinem Nachlauf – also auch den Widerstand – verkleinert.
Haben die Härchen auf der Haut eine ähnliche Wirkung wie die Dimples? Könnte man vermuten. Aber hier macht man die Rechnung ohne den Geschwindigkeitsunterschied. Bei Radfahrtempi verwandelt sich der Vorteil unebener Oberfläche in einen Nachteil. Cote und Yu führten eine Serie von Versuchen durch, in denen sie Probanden mit unterschiedlicher kapillarer Ausstattung im Windkanal testeten. Sie stellten dazu eine sogenannte «Chewbacca-Skala» der Behaarung auf – benannt nach dem Wesen in «Star Wars» – mit der Bewertung 1 für völlig kahl bis 10 für dichten Pelz wie «Chewbacca». Je tiefer auf der Skala, desto höher der Zeitgewinn. Insgesamt zeigte sich: Rasur zahlt sich aus.
Vive le rasoir!
Natürlich handelt es sich um eine Korrelation. Und eine befriedigende physikalische Erklärung steht meines Wissens aus. Aber das kümmert den Athleten kaum. Der Radsport – Leistungssport überhaupt – basiert zu einem wesentlichen Teil auf dem Placeboeffekt. Nicht das Wissen, wie und warum etwas funktioniert, ist zentral, sondern der Glaube, dass es funktioniert. Jeder Athlet hofft wahrscheinlich insgeheim auf einen «Zauber», der ihn über die bisherige Leistungsgrenze katapultiert. Der legendäre Fausto Coppi verlangte, dass Pfleger ihn nach einer Etappe in sein Hotelzimmer trugen, damit die Energie in seinen Beinen erhalten bleibt. Roger Rivière «dopte» seine Pneus mit Helium. Tony Martin baute sein ganzes Haus zu einer Höhentrainingskammer aus. Der Glaube legitimiert natürlich nicht jedes Mittel. Aber nach der elenden Hormonhuberei der Armstrong-Ära stimmt es fast tröstlich, zu erfahren, dass es neben der exorbitanten Hightech-Aufrüstung der Velobranche durchaus auch noch Lowtech gibt. Vive le rasoir!