«Putin’s next move», so lautet die jüngste Titelstory des britischen «Economist». Die Überschrift ist nicht mit einem Fragezeichen versehen, aber eine klare Antwort kann natürlich auch dieser Kommentar nicht liefern. Denn vieles, was in Putins Russland abläuft bleibt schwer durchschaubar und noch weniger berechenbar. Jetzt hat der Kreml den Rückzug des über 100’000 starken Truppenzusammenzugs entlang der ukrainischen Grenze verkündet. Warum dieser militärische Aufbau inszeniert und nun wieder beendet wird, darüber lässt sich nur spekulieren.
Ende letzter Woche hat sodann Putins inzwischen bekanntester innenpolitischer Gegenspieler, Alexei Nawalny, den Abbruch seines Hungerstreiks verkündet. Er begründet das mit dem Umstand, dass ihn spezialisierte Ärzte von ausserhalb des Strafvollzugssystems untersuchten. Ausserdem hatten ihn seine eigenen Ärzte dringlich zur Aufgabe seines lebensgefährlichen Hungerstreiks aufgerufen. Nawalny ist damit von seiner ursprünglichen Forderung etwas abgerückt, persönlich von seinen Vertrauensärzten diagnostiziert zu werden.
Aber auch Putin und seine Leute haben sich bei dieser Willenskonfrontation ein wenig bewegt. Ohne die unüberhörbaren Forderungen im In- und Ausland nach qualifizierter medizinischer Behandlung des schwer geschwächten Nawalny hätte das Kreml-Regime kaum dessen Verlegung in ein Krankenhaus ausserhalb des Straflagers und die Zulassung spezialisierter Ärzte erlaubt. Dass Putin in der Causa Nawalny persönlich in solche Anordnungen involviert ist, daran zweifelt in Russland wohl überhaupt niemand – und im Ausland nur seine Claqueure. Schliesslich war es ja auch Putin, der schon zu Beginn seiner inzwischen über zwanzigjährigen Herrschaft das Prinzip von der «Vertikale der Macht» verkündet hatte.
Der Giftanschlag vom vergangenen August gegen den offenkundig für die Kreml-Kamarilla überaus lästig gewordenen Oppositionellen Nawalny ist mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht ohne das Plazet des obersten Machthabers inszeniert worden. Dass die Aktion dann fehlschlug und Putin sich unter dem Druck der in- und ausländischen Proteste genötigt sah, den Nottransport Nawalnys nach Berlin zu bewilligen, dürfte ihn gewaltig gewurmt haben. Auch dies ein Beispiel dafür, dass der Kremlherr mitunter auch ein von den Ereignissen Getriebener ist.
Mit der tollkühnen Rückkehr des Regimekritikers im Januar hatte Putin möglicherweise auch nicht gerechnet. Sie trieb ihn zu der unbequemen Entscheidung, Nawalny entweder weiter als Oppositionsaktivisten gewähren zu lassen oder ihn mittels einer durchsichtigen Justiz-Farce in einem Straflager verschwinden zu lassen. Putin entschied sich für die Gulag-Option – offenbar in der Erwartung, damit den Störefried wenigstens für die nächsten zweieinhalb Jahre zum Verstummen zu bringen. Auch diese Rechnung ist nicht aufgegangen. Nawalny ist weltweit, in manchen russischen Netzwerken und mit Sicherheit an unzähligen russischen Küchentischen ein heisses Thema – obwohl der Kremlchef dessen Namen öffentlich nie ausspricht.
Im September finden in Russland landesweit Parlamentswahlen statt. Deren Orchestrierung nach gewohntem Muster könnten Putin noch einige schlaflose Nächte bereiten. Denn wenn nicht vieles täuscht, werden der unerschrockene Kämpfer Nawalny und seine vorwiegend jungen Anhänger sich einiges einfallen lassen, um auch dieses Putin-Kalkül möglichst effektvoll zu durchkreuzen.