Wer sich darüber wundert, weshalb offenbar eine deutliche Mehrheit der Russen Putins blutigen Ukraine-Krieg unterstützt, sollte auch im Auge behalten, dass allein seit Kriegsbeginn mehrere hunderttausend Bürger aus Russland ausgewandert sind. Viele von ihnen sind IT-Fachleute und unter 35-jährig. Seit Putin vor 20 Jahren an die Macht gekommen ist, haben um die fünf Millionen Russen das Land verlassen. Die Gesamtbevölkerung schrumpft.
Nein, nicht alle Russinnen und Russen befürworten oder beklatschen gar Putins militärischen Überfall auf das Nachbarland Ukraine, das der Kremlherrscher perverserweise gleichzeitig als slawisches «Bruderland» bezeichnet. Gemäss Umfragen und gängigen Schätzungen sollen zwar etwa 80 Prozent der russischen Bevölkerung diesen Ukraine-Krieg unterstützen. Doch solche Zahlen sind mit grösster Vorsicht und Skepsis zu beurteilen. Es braucht in der immer repressiver werdenden Putin-Diktatur sehr viel Mut, öffentlich gegen diesen Krieg Stellung zu beziehen. Wer das tut und den Ukraine-Krieg beim Namen nennt, statt sich an die staatlich verordnete Sprachregelung von der «militärischen Spezialoperation» zu halten, kann nach den seit dem 24. Februar verschärften Gesetzen mit Gefängnisstrafen bis zu 15 Jahren bestraft werden.
Hoher Anteil von jüngeren Fachleuten
Ausserdem ist es für einen grösseren Teil der Bevölkerung schwer bis unmöglich, überhaupt Zugang zu nicht von der Staatspropaganda gelenkten Informationen zu finden, nachdem das Kreml-Regime fast alle nicht staatlich kontrollierten Medienkanäle verboten oder technisch unterbunden hat. Um solche Hürden im Internet zu überspringen, braucht es schon besser entwickelte IT-Fähigkeiten.
Doch es gibt andere Indizien, die darauf hindeuten, dass die Übereinstimmung der russischen Bevölkerung mit Putins Politik im Allgemeinen und seinem Ukraine-Krieg im Besonderen wahrscheinlich doch nicht so überwältigend ist, wie das fragwürdige Umfragezahlen suggerieren. Zu diesen Indizien zählen nicht zuletzt die steigenden Auswanderungszahlen aus Russland. Die im vom Regime verbotene Organisation «Ok Russians», die ins Ausland geflohene Russinnen und Russen unterstützt, gibt an, dass allein im Monat März rund 300’000 Menschen Russland verlassen hätten. Laut dieser Quelle soll es sich bei diesen Auswanderern vornehmlich um gut ausgebildete Fachleute handeln. Rund ein Drittel sei bisher im IT-Bereich beschäftigt gewesen und 60 Prozent sollen unter 35 Jahre alt gewesen sein.
In den nachfolgenden Monaten April und Mai bewegen sich die Zahlen offenbar auf ähnlicher Höhe. Seit dem Beginn des Ukraine-Überfalls wären das gut eine Million Menschen, die inzwischen Ihrem Land den Rücken gekehrt haben. Viele dieser Emigranten reisen zunächst nach Georgien, Armenien, Kasachstan, der Republik Moldawien, in die Türkei aus, weil dort die Einreise auch ohne Visa-Hürde möglich ist. Das Fernziel liegt aber für höher qualifizierte Fachleute meistens in einem westlichen Land oder für Auswanderer jüdischer Herkunft auch in Israel.
Putins Gleichgültigkeit gegenüber dem Talent-Abfluss
Bei einer russischen Gesamtbevölkerung von 145 Millionen wären das zwar nur etwas mehr als ein halbes Prozent aller Einwohner. Aber sollte sich die Emigration bis Ende Jahr in diesem Ausmass fortsetzen, so wäre mit einer Gesamtzahl von etwa vier Millionen Menschen zu rechnen. Und nimmt man weiter an, dass unter diesen Emigranten jüngere Leute unter 35 mit höherer Berufsausbildung und IT-Fähigkeiten besonders stark vertreten sind, dann läuft das auf einen verheerenden Brain-Drain oder intellektuellen Aderlass für Russland hinaus. Solche Wellen von Talent-Abflüssen hat es allerdings in den letzten 200 Jahren der russischen Geschichte schon mehrfach gegeben. Auch während der schon über zwanzigjährigen Putin-Herrschaft ist die Abwanderung oder Vertreibung von höher qualifizierten Köpfen ein mehr oder weniger konstantes Phänomen.
Aber noch frappierender als der seit Jahren zu beobachtende Brain-Drain ist der Umstand, dass Putin auf diese Entwicklung weitgehend gleichgültig zu reagieren scheint. Jedenfalls sind von Seiten des Regimes keinerlei gezielte Massnahmen zu erkennen, die den laufenden Abfluss von gut ausgebildeten Fachleuten und intellektuellen Talenten verringern könnten – sei es durch höhere materielle Anreize, vor allem aber durch ein freieres politisches und gesellschaftliches Klima. Offenbar liegt Putin mehr daran, über ein Volk von Ja-Sagern, eingeschüchterten Schweigern oder Hurra-Patrioten zu herrschen, als unabhängige Geister wie Computer-Fachkräfte und andere Intelligenzler im Lande zu halten.
«Natürliche und notwendige Säuberung»
In einer Rede im Kreml am 16. März, drei Wochen nach dem Beginn des Ukraine-Überfalls, hat Putin seine Verachtung und seinen Hass auf den anschwellenden Exodus von Leuten, die nach einer besseren Zukunft ausserhalb Russlands streben, wie folgt zum Ausdruck gebracht: «Das russische Volk weiss echte Patrioten von Verrätern zu unterscheiden und wird Letztere einfach ausspucken, wie wenn sie zufällig eine Mücke verschluckt hätten. Ich bin sicher, dass diese natürliche und notwendige Säuberung unser Land nur stärken wird, ebenso unsere Solidarität, unseren Zusammenhalt und unsere Bereitschaft, allen Herausforderungen entgegenzutreten.»
Russland ist zwar flächenmässig das grösste Land der Welt, aber seine Bevölkerung macht mit 145 Millionen weniger als die Hälfte der US-Einwohner (332 Millionen) aus. Ausserdem ist die russische Bevölkerung in den letzten fünf Jahren um rund eine Million Menschen gesunken. Das muss nicht unbedingt eine schlechte Entwicklung sein, schliesslich leidet die Welt an Überbevölkerung und manche Länder wären nicht unglücklich über eine abnehmende Einwohnerzahl.
Katastrophal aber ist für Russland und seine Zukunft der mit der sinkenden Bevölkerung verbundene Brain-Drain, das heisst der Exodus oder die Flucht von höher qualifizierten jüngeren Fachkräften, die im Ausland auf bessere Berufsaussichten und Lebensbedingungen zählen können. Dass Putin mit seiner repressiven Politik diese Entwicklung in Kauf nimmt und mit seiner Kriegstreiberei sogar zusätzlich anheizt, spricht nicht für jenen strategischen Weitblick, den ihm seine Schmeichler und Claqueure unterstellen.