
Wegen der für ihn demütigenden ukrainischen Erfolge gegen russische Besetzungstruppen in der Ostukraine sieht sich Kremlchef Putin genötigt, eine bisher bewusst vermiedene Teilmobilisierung der russischen Streitkräfte anzuordnen. Bis zu 300’000 zusätzliche Reservisten und Spezialisten sollen ab sofort aufgeboten werden. In vier ostukrainischen Provinzen sollen ausserdem unverzüglich sogenannte Volksabstimmungen über einen formellen Anschluss an Russland durchgeführt werden. Einmal mehr hat Putin dem Westen einen möglichen Einsatz von Atomwaffen angedroht – und dies mit einer angeblichen «nuklearen Erpressung» von westlicher Seite begründet.
Damit hatte Putin mit Sicherheit nicht gerechnet, als er am 24. Februar die Entscheidung zu einem umfassenden russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine verkündete. Von einem Krieg durfte nach der Kreml-Sprachregelung überhaupt nicht die Rede sein. Der Überfall auf das Nachbarland wurde verharmlosend als «militärische Spezialoperation» deklariert. Offenkundig hatten Putin und seine Kamarilla mit einem ziemlich kurzen Feldzug gerechnet, um zumindest grosse Teile der Ukraine unter russische Kontrolle zu bringen. Ihnen schwebte wohl ein ähnlich schneller Husarenritt wie 2014 bei der Annexion der Krim vor, der in wenigen Tagen mit der vollen Kontrolle der Halbinsel abgeschlossen war, was die überwältigende Mehrheit der russischen Bevölkerung damals in Begeisterung versetzt hatte.
Nichts läuft «nach Plan»
Solche Träume haben sich beim nun schon sieben Monate dauernden Frontalkrieg gegen die Ukraine als schwere Fehlkalkulation entpuppt. Bereits nach wenigen Wochen musste die russische Führung angesichts des erbitterten ukrainischen Widerstandes und angesichts massiver eigener Verluste ihr ursprüngliches Ziel, die Hauptstadt Kiew zu erobern und dort eine Marionettenregierung zu installieren, aufgeben. Aber auch die spätere Konzentration auf die militärische Besetzung des Donbass im Osten des Landes und auf südliche Gebiete in der Nähe des Schwarzen Meeres ist nur langsam und keineswegs umfassend vorangekommen.
Der in den letzten zwei Wochen alle Welt verblüffende Vormarsch ukrainischer Truppen gegen die russischen Besetzer im Gebiet um die Grossstadt Charkiw sowie punktuelle militärische Erfolge der Ukrainer in südlicheren Kampfgebieten hat Putin jetzt gezwungen, sein bisher scheinbar so selbstsicher und nicht ohne Verachtung gegenüber eventuellen Zweiflern rezitiertes Mantra, alles laufe «nach Plan», über Bord zu werfen und der stockenden russischen Kriegsmaschinerie dringend neue Kräfte zuzuführen.
Zwar wird vorerst nur von einer «Teilmobilisierung» gesprochen. Aber allein schon dieser einschränkende Wortgebrauch dürfte sehr vielen Menschen in Russland ins Bewusstsein bringen, dass die «Spezialoperation» in der Ukraine, mit der der Normalbürger eigentlich nichts zu tun hatte, nicht funktioniert und dass in Wirklichkeit ein richtiger Krieg im Gange ist. Bisher waren auf russischer Seite fast ausschliesslich Berufs- und Zeitsoldaten (sogenannte Kontraktniki) im Einsatz, die sich mehr oder weniger freiwillig für diesen Job gemeldet hatten. Nun will die Moskauer Führung zusätzlich bis zu 300’000 Reservisten und technische Spezialisten mobilisieren. Dass in diesem Aufgebot bei weitem nicht alle vom bevorstehenden Kriegsdienst begeistert sein werden, kann man sich lebhaft vorstellen. Noch weniger werden es die Angehörigen der Einberufenen sein.
«Das ist kein Bluff»
Putin begründete in seiner 20-minütigen Fernsehrede, in der er am Mittwochmorgen die neuen Massnahmen zum Krieg gegen die Ukraine ankündigte, mit der Behauptung, der Westen habe in dieser Auseinandersetzung «alle Linien» überschritten und die Ukraine mit Waffen versorgt, die auch russisches Territorium erreichen könnten. Das eigentliche Ziel des Westens sei es, Russland «zu schwächen, zu teilen und schliesslich zu zerstören». Er ging noch weiter und schwadronierte allen Ernstes von einer «nuklearen Erpressung», die die USA und Europa gegen Russland im Schilde führten. Doch Russland, setzte er hinzu, verfüge ebenfalls über zahlreiche und zum Teil noch modernere derartige Zerstörungswaffen. Und falls die territoriale Integrität dieses Landes bedroht werde, werde man nicht zögern, alle zur Verfügung stehenden Mittel zum Schutz Russlands und seiner Bevölkerung einzusetzen. «Das ist kein Bluff», fügte er hinzu.
Offenkundig ist auch die kurzfristige Ankündigung von «Volksabstimmungen» in vier ostukrainischen Provinzen (Lugansk, Donezk, Cherson und Saporischja) eine defensive Reaktion auf den jüngsten Vormarsch ukrainischer Truppen auf russisch besetzte Gebiete in der Ukraine. Durch diese Scheinreferenden soll der angebliche Wille der Bevölkerung zum Anschluss an Russland bewiesen und eine definitive Annexion dieser ukrainischen Territorien legitimiert werden.
Hastige «Volksabstimmungen» in besetzten Gebieten
Zwar gibt es keine Zweifel, dass ein derart hastig innerhalb von wenigen Tagen und zum Teil unter Kriegsbedingungen organisiertes Referendum – ähnlich wie schon im Fall der Krim – völkerrechtlich kaum von andern Ländern anerkennt werden wird, ausser vielleicht von einigen Moskau-treuen Diktaturen wie Nicaragua, Venezuela oder Nordkorea. Doch der Kreml kann nach dieser durchsichtig inszenierten Einverleibung rhetorisch behaupten, bei weiteren ukrainischen Angriffe gegen diese Gebiete handle es sich um direkte Aggressionen gegen russisches Staatsgebiet. Ob sich die ukrainische Führung durch solche Droh-Rabulistik beeindrucken lässt, scheint indessen ziemlich zweifelhaft.
Putin versucht mit seinen Entscheidungen zur Teilmobilisierung der Streitkräfte und den kurzfristigen Massnahmen zur Annexion ukrainischer Gebiete zwar, sein angeschlagenes Prestige als angeblich «überlegener Stratege» und «Retter Russlands» wieder etwas zu kitten. Doch ob ihm dies auch in der bisher weitgehend folgsamen russischen Bevölkerung gelingen wird, ist keineswegs garantiert. Jedenfalls sind seit dem fluchtartigen Rückzug russischer Besetzungstruppen in der Nähe von Charkiw auch in Russland einige Stimmen laut geworden, die Zweifel und öffentlich Kritik an Putins mörderischem Überfall auf die Ukraine äussern. Die bekannteste und in ihrer gesellschaftlichen Breitenwirkung wichtigste dieser Stimmen ist diejenige der Popsängerin Alla Pugatschowa. Die weit über 70-jährige Diva ist in Russland eine lebende Legende, die schon zu Sowjetzeiten grosse Verehrung genoss.
Die Stimme von Alla Pogatschowa
Pugatschowa hat vor einigen Tagen in Russland riesiges Aufsehen erregt, als sie auf Instagram mit mehreren Millionen Followern ihre Solidarität mit ihrem sehr viel jüngeren Ehemann bekundete, der zuvor Putins Ukraine-Krieg heftig kritisiert hatte und deswegen auf die Liste der «ausländischen Agenten» gesetzt worden war. Auch sie wolle jetzt auf die Liste dieser «ausländischen Agenten» gesetzt werden, schrieb die Sängerin.
Ein alter und sehr gut informierter Freund in Russland, mit dem ich mich dieser Tage per Whatsapp telefonisch unterhielt, meinte in diesem Zusammenhang, Alla Pugatschowa sei für breite Schichten des Volkes so etwas wie eine gesellschaftliche Göttin. Ihre jetzige Stellungnahme gegen den Ukraine-Krieg könne man wirkungsmässig nur erfassen, wenn man sich vorstellte, Elvis Presley hätte seinerzeit öffentlich den Vietnam-Krieg verdammt.
Solche Einschätzungen werden vielleicht auch Putin und seiner Führungsriege nicht ganz fremd sein. Sie dürften kaum zur Beruhigung ihrer Nervosität beitragen.