Putin und seine Propagandisten bezeichnen den Anschlag vom Wochenende auf die kostspielige Krim-Brücke, die die Halbinsel seit einigen Jahren mit dem russischen Festland verbindet, als «terroristischen Akt» des «Nazi-Regimes in Kiew». In Klartext der Fakten heisst das: Der Kriegsverbrecher im Kreml, der seit acht Monaten das Nachbarland mit Tod und Zerstörung verwüstet und Millionen von ukrainischen Bürgern zu Flüchtlingen macht, beschimpft die Opfer, die sich zur Wehr setzen, als Terroristen.
In Moskau und anderswo in Russland reiben sich in diesen Tagen die Putin-Kamarilla und ihre medialen Söldlinge wieder die Hände. Nach dem Schock und dem ohnmächtigen Zorn, die der anscheinend unerwartete oder nicht für möglich gehaltene Sprengstoffanschlag vom Samstag auf das Prestigeobjekt der Kertsch-Brücke in den national-chauvinistischen Schichten Russlands ausgelöst hatte, wird in den öffentlichen Kanälen des Regimes neue Kriegsbegeisterung und Schadenfreude über die Not und das Elend im überfallenen Nachbarland zelebriert.
Der mörderischde Bomben- und Raketenhagel, den Putins Generäle seit dem Montag als Rache für die Schmach des Angriffs gegen die Krim-Brücke auf eine Reihe von ukrainischen Städten, Wohngebiete und Versorgungszentren niederprasseln lassen, scheint die gewünschte Wirkung zumindest in der Kaste der Kreml-Claqueure nicht zu verfehlen. Was allerdings nicht bedeuten muss, dass sich auch eine eindeutige Mehrheit der russischen Bevölkerung vom neuen Kriegsenthusiasmus der Putin-Handlanger anstecken lässt. Unzählige unter jenen Hunderttausenden von jungen Männern, die in diesen Tagen unfreiwillig für den Ukraine-Krieg eingezogen werden, dürften – zusammen mit ihren Angehörigen – von weniger euphorischen Gefühlen bewegt sein.
Putins Terrorismus-Vorwurf gegenüber der Ukraine und ihrem angeblichen «Nazi-Regime» in Kiew bringt die ganze Perversität dieses russischen Angriffskrieges auf eine Art Kurzformel. Ende Februar lässt der Kremlchef seine Armee im Nachbarland – dessen Bewohner er zuvor in seinen Traktaten als «Brudervolk» bezeichnet hatte – überfallmässig einmarschieren. Seither verbreiten seine Truppen dort Mord und Zerstörung, schiessen Stadtteile und ganze Dörfer in Schutt und Asche und zwingen Millionen von Menschen zur Flucht ins Ausland oder in westliche Landesgegenden. Einige ukrainische Provinzen im teilweise eroberten Donbass werden von Moskau mit allem pseudojuristischen Brimborium annektiert und sollen «für immer» dem russischen Reich zugehörig sein.
All diese verbrecherischen Aktionen verstossen in eklatanter Weise gegen völkerrechtliche Normen und gegen eine Reihe von Verträgen, in denen Russland nach der Auflösung der Sowjetunion ausdrücklich die territoriale Integrität der Ukraine garantiert hatte (so unter anderen das Budapester Memorandum von 1994 im Zusammenhang mit dem Abzug aller Atomwaffen aus der Ukraine). Schon die Annexion der Krim, die Putin vor acht Jahren als Reaktion auf einen ihm nicht genehmen Volksaufstand und Machtwechsel in Kiew inszeniert hatte, war völkerrechtlich ein eindeutiger Vertragsbruch.
Wenn die Kreml-Propagandisten nun den Sprengstoffanschlag auf die Krimbrücke mit gespielter Empörung als blanken Terrorismus brandmarken und damit die intensivierte Bomben-Offensive gegen ukrainische Wohngebiete und Infrastrukturen rechtfertigen, so stellen sie Wahrheit in diesem Krieg einmal mehr auf den Kopf.
Erstens ist noch keineswegs eindeutig bewiesen, dass die Explosion auf dieser Brücke, die Putin nach der Krim-Einverleibung im Eiltempo und mit milliardenschweren Kosten hatte errichten lassen, tatsächlich von Akteuren im Dienste der Kiewer Regierung attackiert wurde. Jedenfalls hat Kiew einen solchen Zusammenhang nicht ausdrücklich bestätigt. Und es ist immerhin denkbar, dass die Sabotage auf der Brücke von Kreml-Gegnern aus dem russischen Untergrund organisiert wurde. Nach ukrainischen Darstellungen soll der mit Sprengstoff beladene Lastwagen von der Seite der Kertscher Landenge, also von russischem Territorium aus, auf die Brücke gefahren sein.
Vor allem aber stempelt Putin mit seiner Lügen-Rhetorik das Opfer der russischen Aggression zum terroristischen Bösewicht, der nach seiner verqueren Logik ein Verbrechen begeht, wenn er sich gegen den Angreifer zur Wehr setzt, indem er versucht, dessen militärische Nachschublinien zu unterbinden. Dabei unterschlägt Putin geflissentlich, dass der Anschlag auf die Krim-Brücke völkerrechtlich gesehen kein Angriff auf «russisches Territorium» darstellt, denn bisher hat, abgesehen von einigen Moskau-geneigten Diktaturen, kein einziger Staat die willkürliche Einverleibung der Krim durch Mütterchen Russland formell anerkannt.
Nicht weniger demagogisch bleibt die Sprachregelung des Kremls und seiner Lausprecher, die Selenskyj-Regierung in Kiew als «terroristisches Nazi-Regime» zu verunglimpfen. Dass Selenskyj selber einer jüdischen Familie entstammt und vor drei Jahren in freien Wahlen mit überwältigender Mehrheit zum Präsidenten gewählt wurde, wird konsequent ausgeblendet. Man fragt sich, was jene Millionen von russischen Bürgern, die selber Angehörige in der Ukraine haben und daher möglicherweise über die politischen Zustände im Nachbarland besser im Bild sind, von solchen plumpen Verleumdungen halten.
Niemand weiss, wie Putins Krieg in der Ukraine ausgehen wird. Deshalb bleibt auch die Hoffnung nicht völlig illusionär, dass Putin eines Tages für seine Lügenhetze und seine Kriegsverbrechen gegenüber dem Nachbarland zur Rechenschaft gezogen wird – in welcher Art und Weise auch immer.