Der Westen will Putin „bestrafen“ und „isolieren“. Washington spricht von einer neuen „Eindämmungsdoktrin“. Und Angela Merkel meint: „Putin hat den Kontakt mit der Realität verloren“. In der russischen Oeffentlichkeit jedoch wird Putins Handeln als „energisch“, „klug“ und „erfolgreich“ wahrgenommen. Die Umfragewerte Putins, die seit 2011 abnahmen, sind nach der Annexion der Krim sprunghaft nach oben geklettert. Heute stehen mehr als 80 Prozent der russischen Bevölkerung hinter ihrem Präsidenten.
Es gibt Stimmen, die glauben, Putins historisch anmutendes Popularitätshoch könne als Beweis für die Annahme gelten, der Konflikt in und mit der Ukraine sei letztlich eine von Moskaus langer Hand geplante Krise. Wenn man sich aber vor Augen hält, wie der Kreml sonst funktioniert oder eben nicht funktioniert, dann sind solche Thesen nicht ernst zu nehmen.
Kreml sieht innere Ordnung bedroht
Putins Russland befindet sich in Wirklichkeit in einer schwierigeren Lage, als im Westen wahrgenommen wird. Die Absetzung von Präsident Janukowitsch unter dem Druck des Maidan konfrontierte den Kreml mit einer existenziellen Gefahr. Die Welle von Aufständen, welche die politischen Systeme im Mittleren Osten verändert hat, tauchte plötzlich vor Russlands eigener „Küste“ auf. Der Kiewer Aufstand ist für Moskaus fragile innere Ordnung eine Bedrohung geworden. Das politische Umfeld Russlands hat sich auf dramatische Weise geändert.
Blenden wir zurück: Kiew 20. - 21. Februar. Alarmiert durch ein Massaker mit über hundert Toten auf dem Maidan, dessen Hintergründe bis heute nicht aufgeklärt sind, handelten die drei europäischen Aussenminister Steinmeier, Sikorski und Fabius eine politische Lösung mit vorgezogenen Neuwahlen aus. Die russische Führung war bereit, den Kompromiss mitzutragen.
Erst als dieser Ausweg am Widerstand der ukrainischen Opposition scheiterte, fiel auf russischer Seite die Entscheidung für ein offensives Vorgehen, bei dem auch das militärische Instrument eingesetzt werden sollte. Am 1. März holte Putin die Zustimmung des Föderationsrates für den Einsatz von Streitkräften im Ausland. Zwei Wochen später unterzeichnete der Präsident den Erlass zur Anerkennung der Republik Krim und am Folgetag wurden die Krim und die Stadt Sewastopol in die Russische Föderation aufgenommen.
Wie weiter nach dem Krim-Coup?
„Putin ist glücklich, dass die Krim-Aktion mit so wenig negativen Reaktionen des Westens und der Ukraine so rasch über die Bühne ging“, meint der ehemalige US-Botschafter in Moskau, Michael A. McFaul. Der seit März wieder an der Stanford Universität lehrende Russland Experte sieht die Annexion der Krim nicht als Resultat einer seit langem durchdachten Strategie und glaubt, Putin selber wisse nicht, was nach dem Krim-Coup sein eigentliches Ziel in der Ukraine sein soll. (Interview: PBS Frontline 27.Mai 2014).
Die „New York Times“ hingegen ist überzeugt:“Mit der Invasion der Krim und der Destabilisierung der Ostukraine offenbart Putin seinen wahren Charakter“. Der „Economist“ seinerseits hatte einen „unersättlichen Bären“ auf dem Cover (19.April). Und als Kronzeuge gilt Putin selber mit seiner oft zitierten Aussage in einer Rede im Jahr 2005: „Der Zusammenbruch der Sowjetunion war die grösste geopolitische Katastrophe im 20. Jahrhundert.“ Selten zitiert wird, wie Putin gleich im folgenden Satz der selben Rede seine Sicht begründete: „...weil von der Seuche des Zerfalls auch Russland befallen... und damit die Lebensfähigkeit der russischen Staatlichkeit gefährdet ist“. Putin versteht sich nicht als Kämpfer für eine wiedergeborene Sowjetunion, er will vielmehr verhindern, dass der Russischen Föderation das gleiche Schicksal widerfährt wie der Sowjetunion.
Liberale begrüssten Putin als „russischen Pinochet“
Die entscheidende Frage ist aber: Wo sieht Putin die Ursachen für den drohenden Zerfall Russlands und was will er dagegen unternehmen ? Putin befand sich schon einmal in einer ähnlichen Situation, als er nach den chaotischen Jahren unter Jelzin im Jahr 2000 die Macht übernahm. Damals wurde er von Jelzins Radikalreformern, die für die brutale Schocktherapie verantwortlich waren, als „russischer Pinochet“ begrüsst. Der ehemalige Privatisierungsminister Anatoly Tschubais lobte Putins Feldzug gegen das abtrünnige Tschetschenien: „Im Blut des Tschetschenien Krieges wird die russische Armee neu geboren“.
Die Liberalen, die damals einen wichtigen politischen Block bildeten, sind inzwischen zu einem unbedeutenden Häufchen geschrumpft und sehen ein, dass sie mit Putin einen „falschen Pinochet“ unterstützt hätten. Der harte Kern von Putins Klientel umfasst heute den militärisch-industriellen Komplex, die Staatsbürokratie und die Pensionierten. Für sie sind die Begriffe „Liberale“ und „Demokraten“ Schimpfwörter. Ein „starker Staat“, soziale Sicherheit sowie gesicherte Arbeitsplätze haben Priorität und nicht Menschenrechte, Pressefreiheit oder freie Wahlen
Enttäuschte „Putin-Kinder“
In Putin getäuscht haben sich auch „Putins Kinder“. So hiess die neue städtische Mittelschicht, die von Putins goldenen Wachstumsjahren profitiert hat. Die Finanzkrise 2008 beendete aber ihren Traum, es werde nun alles immer besser. Auch das Versprechen Medwedews, Russlands Wirtschaft werde von Grund auf modernisiert, war ins Leere gelaufen. Im Winter 2011 – 2012 forderten Zehntausende in Moskau ein „Russland ohne Putin“, nachdem der Kreml mit Wahlfälschungen versucht hatte, ein Debakel seiner Partei „Einheit Russland“ zu vertuschen.
Putin konnte sich bei den Präsidentschaftswahlen 2012 zwar durchsetzen, aber seine Umfragewerte gingen zurück. Zudem blieb das Wirtschaftswachstum aus und die versprochene Besserung der Einkünfte trieb die Inflation nach oben.
In dieser schwierigen Situation brauchte Putin eine neue soziale Basis. Die „schweigende Mehrheit“ jenseits der Metropolen musste mobilisiert werden. In den staatlich kontrollierten Massenmedien wurden Demonstranten als Unruhestifter, Nichtregierungsorganisationen als „ausländische Agenten“, Homosexuelle als Kinderschänder und Migranten als Kriminelle markiert. Die USA erschienen als die Macht, die Russland systematisch niederdrücken und zerstörten wollten.
Mobilisierung mit ambivalenten Folgen
Diese Mobilisierung nationalkonservativer Kräfte hatte aber ambivalente Folgen. An mehreren Orten kam es zu Progromen, die sich gegen Migranten aus dem Kaukasus und Zentralasien richteten. Die Mobilisierung gewann eine problematische Eigendynamik. Der Kreml versuchte wieder zu mässigen und machte Konzessionen gegenüber der Protestbewegung. Ihr wichtigster Sprecher, Alexander Navalny, wurde zwar verurteilt, durfte aber an den Bürgermeisterwahlen in Moskau teilnehmen. Der Oligarch und Putin-Kritiker Michail Chodorkowski sowie die Punk-Gruppe Pussy Riot konnten das Gefängnis verlassen.
Die Krise in der Ukraine mit dem unerwarteten Sturz von Janukowitsch im Februar hatte in Moskau erneut einen Strategiewechsel zur Folge. Im Kreml setzten sich wieder die Vertreter einer Politik nationaler Stärke durch, die den aussen- und innenpolitischen Kurs bestimmten.
Haben die „politischen Strategen“, wie in Moskau die Pragmatiker heissen, eine Chance, (wieder) zum Zug zu kommen ? Sie wollen Wirtschaftsreformen vorantreiben und Russlands innenpolitische Probleme lösen. Ihr wichtigstes Argument: Widerspruch zwischen Grossmachtanspruch und Russlands schrumpfenden wirtschaftlichen Ressourcen.
Hinter Griechenland und Portugal
Flächenmässig ist Russland das grösste Land der Welt. Doch die Wirtschaftsleistung liegt weit unter der der USA und Chinas. Russlands BIP ist etwas geringer als das Deutschlands. Betrachtet man die Wirtschaftsleistung pro Kopf, liegt Russland noch hinter Griechenland, Portugal der Slowakei und Litauen. Der Export entspricht dem eines Drittweltlandes. 2011 machten Roh - und Brennstoffe fast 80 Prozent, Maschinen und Ausrüstungen gerade einmal 4,5 Prozent des Exports aus. Auch demographisch verfügt Russland mit 140 Millionen Einwohnern (China: 1,351 Milliarden, USA 314 Millionen) über abnehmende Ressourcen.
Russland verfügt noch über die Insignien einer Weltmacht, auch wenn ihr das wirtschaftliche und technologische Potential fehlt. Im postsowjetischen Raum kann Moskau noch gestalten, jenseits der eigenen Nachbarschaft reichen Kräfte und Einfluss oft nur noch dazu, als Störer zu wirken. Diese Situation ist für die russische Aussenpolitik frustrierend.
Zur Kompensation versucht Russland, sich als konservatives Gegengewicht zum „dekadenten Westen“ aufzubauen. In einer Grundsatzrede im vergangenen Herbst appellierte Putin an seine Landsleute, sich an den traditionellen Werten der orthodoxen Kirche zu orientieren. Russland sei ein „aussergewöhnliches Land“ und müsse verhindern, den gleichen Weg einzuschlagen wie das „moralisch morsche Europa“.
Russische Oberschicht bevorzugt den „dekadenten Westen“
Das ist ideologische Schaumschlägerei zur Ablenkung von eigenen Schwächen. Das beweist die russische Oberschicht, die ihre Kinder ja nicht nach China oder Kasachstan zur Ausbildung schickt sondern in Privatschulen des „dekadenten Westens“, wo sie ihre illegal zusammengerafften Vermögen in Sicherheit gebracht hat. Putin und seine Putin-Garchen sind Teil der globalisierten Plutokratie geworden und können deshalb auch nicht mehr „isoliert“ werden.
Putins wechselnde Rollen und Strategien sowie die Krise in der Ukraine zeigen, der Kreml hat keinen „Masterplan“. Moskaus Politik wird von verschiedenen Faktoren und Machtgruppen beeinflusst, ist oft widersprüchlich und holprig. Die USA und EU haben auf die Entscheidungsprozesse im Kreml kaum Einfluss und können nur versuchen, möglichst wenig Fehler zu machen.