Journal 21: Kurt Spillmann, wie geht es Putin?
Kurt R. Spillmann: Ich vermute, dass es Putin trotz seiner zur Schau getragenen Selbstsicherheit und Gelassenheit nicht sehr gut geht, denn er weiss selber sehr gut, dass er Russland aussenpolitisch in eine schwierige Isolation hineingeführt hat, dass seine Unterstützung der Separatisten in der Ostukraine hohe Kosten mit sich bringt und dass die wirtschaftliche Lage Russlands alles andere als rosig ist.
Hat er eine längerfristige Strategie oder fährt er auf Sicht?
Er möchte offenbar das russische Imperium wiederherstellen, so wie es unter den Zaren (den Romanows und den kommunistischen Diktatoren) existierte. Doch da sich dieser Wunschtraum als unerfüllbar herausgestellt hat, wendet er sich einerseits trotzig von Europa ab und scheinbar Asien zu und versucht in der Ukraine wenigstens als Störfaktor einflussreich zu bleiben.
Er zündelt und zündelt und schickt wieder Soldaten und Kriegsgerät in die Ostukraine. Will er einfach den Westen testen, wie weit er gehen kann?
Mehr noch: er möchte die Ukraine destabilisieren und auf diesem Weg den russischen Einfluss in die Zukunft hinein erhalten. Er möchte den „Verlust“ der westlichen Ukraine verhindern, denn als solchen betrachtet er eine vertragliche Verbindung der Ukraine mit der EU. Schliesslich möchte er mit Hilfe des Ukraine-Problems die Europäische Union auseinanderdividieren und Europa von den USA entfremden.
Putin umwirbt jetzt den türkischen Ministerpräsidenten Erdogan. Die Nato fürchtet schon, die Türkei könnte die internationalen Sanktionen gegen Russland unterlaufen. Oder schlimmer: der unberechenbare Erdogan könnte einen Flirt mit Putin beginnen. Was dann?
Die gegenwärtige Türkei ist nicht mehr als vertrauenswürdiger Nato-Partner einzustufen, bei aller Anerkennung der militärischen Stärke der Türkei und der grossen Bedeutung der Türkei für das Bündnis in der Vergangenheit. Aber Erdogan hat die türkische Politik so personalisiert, er hat sich so weit aus dem westlichen Lager (dem ehemals anti-kommunistischen, gegen die sowjetische Vorherrschaft gerichteten Lager) der Nato-Staaten entfernt und verfolgt so klar seine eigenen Ziele – eine Vormachtstellung unter den muslimischen Staaten des Nahen und Mittleren Ostens zu erreichen -, dass mit den seltsamsten Kurven der türkischen Aussenpolitik gerechnet werden muss, sogar mit einem temporären Flirt der beiden alten Gegner Russland und Türkei.
Putin hat begonnen, Anti-EU-Parteien in Westeuropa finanziell zu unterstützten, so Marine Le Pens Front National. Putin, der Wahlkämpfer in Westeuropa?
Auch diese Massnahmen dienen seinem Ziel, die Europäischen Nationen auseinanderzudividieren, damit Westeuropa zu schwächen und auch die transatlantische Allianz zu sprengen. Und leider besteht in fast allen westeuropäischen Nationen zur Zeit eine so grosse Verunsicherung, dass beträchtliche Bevölkerungsteile Zuflucht suchen bei den scheinbar sicheren Werte der nationalen Vergangenheit. Und dieses Bedürfnis nach sicheren Werten in Zeiten der Unsicherheit machen sich fast überall populistische Verführer zunutze, um sich als „Retter der Nation“ aufzuspielen und mit billigen Parolen gegen den vermeintlichen „Moloch Europa“ Stimmen zu fangen. All das schwächt Europa und die erprobte transatlantische Gemeinschaft und spielt Putins russischen Grossmachtträumen in die Hände.
Wie weit wird er gehen?
So weit er kann, beziehungsweise so weit die westlichen Nationen sich manipulieren und schwächen lassen.
Die russische Wirtschaft leidet unter den verpassten Strukturreformen. Der jetzt fallende Ölpreis ist eine Katastrophe für Russland. Die westlichen Sanktionen wirken. Der Krieg im Donbass kostet Geld. Könnte es sein, dass Putin einmal weggefegt wird, weil es der russischen Wirtschaft immer schlechter geht?
Das wäre ein weit entferntes Szenario. Zur Zeit geniesst Putin als Held, der die Krim zurückgebracht hat, noch grösste Popularität unter der breiten Bevölkerung. Erst eine Minderheit hat gemerkt, welche Kosten durch Putins abenteuerliche Politik auf Russland zukommen. Aber von einem Aufstand ist noch nichts zu sehen oder zu spüren.
Soll der nationalistische Krieg in der Ostukraine die russische Bevölkerung davon ablenken, dass Russland wirtschaftlich nicht vorankommt?
Ablenkung war sicher nicht der Hauptzweck der Ukraine-Politik. Putin hat wohl den Widerstand des Westens unterschätzt und sich vorgestellt, er könnte auch mit dem Donbass verfahren wie mit der Krim: durch eine rasche Annexion (oder vertragliche Anbindung) vollendete Tatsachen zu schaffen, um dann in aller Ruhe weitere Expansionsschritte zu planen oder einzuleiten.
In der Ostukraine ist die Wirtschaft völlig zusammengebrochen. Putin kann sich einen Wiederaufbau finanziell gar nicht leisten. Wenn es den pro-russischen Ukrainern immer schlechter geht, könnten sie sich dann nicht bald einmal von Russland abwenden und sich sagen: Früher ging es uns besser?
Für die Bevölkerung der Ostukraine stehen die Zeichen zur Zeit sehr schlecht. Viele sind geflohen, die Unglücklichen – Alte, Kranke, nicht mehr Mobile – sind geblieben. Die ursprüngliche Begeisterung für die Abspaltung von Kiew ist den Sorgen um das alltägliche Überleben gewichen. Aber zur Zeit dominieren die separatistischen Militanten, unterstützt von Russland. Und es ist nicht unwahrscheinlich, dass der von der OSZE unter Schweizer Führung ausgehandelte Waffenstillstand sich trotz aller Verstösse zur Vorstufe einer neuen Grenzziehung verhärten könnte.
Wenn Putin die Felle davonschwimmen, wenn er in die Enge getrieben wird, besteht dann nicht die Gefahr einer kriegerischen Überreaktion gegen den Westen?
Dieses schlimmste Szenario ist leider nicht von der Hand zu weisen. Russland ist immer noch nukleare Grossmacht, und möchte als solche angesehen und respektiert werden, trotz aller Schwächen im wirtschaftlichen und auch militärischen Bereich. Putin hat schon Andeutungen in dieser Richtung gemacht. Doch auch er hat noch rationale Berater um sich, die hoffentlich völlig irrationale Reaktionen aus gekränktem Stolz und beleidigtem Ehrgefühl nicht ins Kraut schiessen lassen.
Ist die Ukraine als integraler Staat noch zu retten?
Aus westlicher Perspektive wird diese Fiktion aufrechterhalten. Aber realistischerweise muss die Krim bereits als russisch gelten, und möglicherweise wird es dem Donbass ähnlich ergehen. Materiell kann die Ukraine diese Verluste verschmerzen und materiell verursachen beide Gebiete für Russland vorerst nichts als Kosten. Doch die „Rückkehr der Krim nach Russland“ bleibt auf der einen Seite ein Prestigegewinn für Putin und auf der anderen Seite eine massive Verletzung des Völkerrechtes mit Gewaltmitteln. Der Streit um die Grenze der Ukraine wird virulent bleiben, bis alle Beteiligten sich allenfalls einvernehmlich über eine neue Regelung geeinigt haben.
Ist der Westen dem verletzten Russland in den letzten Jahren nicht etwas allzu arrogant entgegengetreten und hat so nationalistische Gefühle geschürt?
Das ist sicher der Fall. Das Triumphgefühl des Westens nach dem Fall der Berliner Mauer und dem Kollaps des Kommunismus führte dazu, dass Russland und Kommunismus in allzu vereinfachender Weise gleichgesetzt und als Verlierer behandelt wurden. Als Gorbatschow im Februar 1990 um seine Einwilligung zur Wiedervereinigung Deutschlands gebeten wurde und die sowjetische Zustimmung nur gab unter der Bedingung, dass die Nato sich nicht weiter in Richtung russische Grenze ausdehnen dürfe, sagten ihm sowohl Aussenminister Baker für die USA wie auch Aussenminister Genscher für die Bundesrepublik zu, dass „kein Interesse an einer Ausdehnung der Nato nach Osten bestehe“. So nachzulesen im Augenzeugenbericht von Michael R. Beschloss Strobe und Talbott „Auf höchster Ebene, Das Ende des Kalten Krieges und die Geheimdiplomatie der Supermächte 1989 – 1991“, Düsseldorf et al. 1993, S.244.
Aber an diese Zusage hielt sich der Westen nicht, die Nato wurde – auf begreifliches Drängen der befreiten Nationen des aufgelösten Warschauer Paktes – Zug um Zug bis vor die Haustüre Russlands vergrössert, und aus den Hoffnungen Jelzins und Putins, selber auch in eine neue, umfassendere europäische Sicherheitsorganisation aufgenommen zu werden, wie sie anlässlich der Unterzeichnung der Pariser Charta am 21.11.1990 als Vision im Raum schwebte, wurde nichts. Putin hatte sich in seiner deutsch gehaltenen (!) grossen Rede vor dem deutschen Bundestag noch am 25.9.2001 dafür ausgesprochen, „das einheitliche und sichere Europa zum Vorboten einer einheitlichen und sicheren Welt“ zu machen. Er hatte auch George W.Bush nach 9/11 als erster ausländischer Staatsmann die Hilfe Russlands im Kampf gegen den Terrorismus zugesagt. Erst nach dem amerikanischen Einmarsch in den Irak 2003 scheint Putin alle Hoffnungen auf ein kooperatives Verhältnis mit dem Westen verloren zu haben und wieder zum alten Schema der Ost-West-Konfrontation zurückgekehrt zu sein. Auf jeden Fall wurde die Chance verpasst, Russland auf eine neue Art mit dem Westen zu verbinden.
Sind wir im Westen nicht ab und zu etwas hochnäsig beim Beurteilen fremder Kulturen. Wie die russische Seele fühlt, verstehen wir doch eigentlich gar nicht.
Damit kommen wir auf ein sehr schwieriges Feld. Gemeinsame geschichtliche Erfahrungen einer Gruppe und ihren Niederschlag in den individuellen Angehörigen zu erfassen, zu gewichten und bei politischen Entscheiden zu berücksichtigen, ist ein äusserst heikles Unterfangen, besonders auch darum, weil es sich dabei hauptsächlich um unbewusste oder nur gefühlte Einflussfaktoren handelt. Die tausendjährige russische Zugehörigkeit zur Ostkirche mit ihrer anderen Theologie und ihren anderen Ritualen, die bis zur bolschewistischen Revolution während Jahrhunderten geltende Einheit von geistlicher und politischer Autorität in der Person des unantastbaren Zaren, dann die Gegensätzlichkeit der Erfahrungen und Wünsche der weltoffenen, Europa zugewandten Oberschicht und der auf die eigene (meist beschränkte) Welt konzentrierten Unterschicht machten es westlichen Beobachtern seit jeher schwer, „Russland zu verstehen“. Die Unterschiedlichkeit der Wahrnehmung in West und Ost kam 2009 in einem ausführlichen SPIEGEL-Bericht zum Ausdruck, der berichtete: „In Moskau herrscht quer durch alle politischen Lager, von den Nationalpatrioten über die Kommunisten bis zur Putin-Partei «Einiges Russland» ein politischer Konsens: Der Westen habe sein Wort gebrochen und Russland, als es schwach war, über den Tisch gezogen.“ (DER SPIEGEL 48/2009, S.46-49)
Der Westen versucht zu Recht, einen Rückfall in einen Kalten Krieg zu verhindern und sucht deshalb nach den tieferen Ursachen der gegenwärtigen Krise. Dabei zeigt sich, dass eben auch der Westen in seinem Verhalten gegenüber Russland Fehler gemacht hat.
Putin wird im Westen oft als gefährlicher grossmachtsüchtiger Irrer bezeichnet, der über Leichen geht, keine Gefühle hat, jeden wegräumt, der ihm nicht passt, von Demokratie gar nichts hält, der will, dass alle vor ihm zittern. Sehen Sie ihn auch als neuen Iwan den Schrecklichen?
Putin hat einen schwierigen Lebensweg vom Hinterhof-Schläger zum neuen Zaren hinter sich. Aber ein Irrer ist er keineswegs, sondern ein sehr nüchterner Rechner, der allerdings auch seine sehr empfindlichen Seiten hat, wenn er sich (oder nun auch: Russland) in seinem Stolz verletzt fühlt. Dass er in seiner Position der zur Zeit uneingeschränkten Machtfülle Grossmachtphantasien nährt, ist angesichts der russischen Geschichte, der immer noch existierenden russischen Nuklearbewaffnung und der Heilserwartung, die ihm von sehr grossen Teilen der russischen Bevölkerung entgegengebracht werden, sehr begreiflich.
Ob er ein so skrupelloser Diktator ist, wie zum Beispiel seine Biographin Masha Gessen („Putin – der Mann ohne Gesicht“) ihn darstellt, muss man dem Urteil künftiger Historiker überlassen. Aber dass er persönlich von der Macht fasziniert ist, sie unter allen Umständen in seinen Händen behalten will und auch für Russland harte Machtpolitik betreibt, scheint mir seit seiner Rückkehr ins Präsidentenamt 2011 keinem Zweifel zu unterliegen. Gerade aus dieser Perspektive plädiere ich dafür, trotz aller Spannungen und Zweifel, und mit aller gebotenen Vorsicht die Kooperation und nicht die Konfrontation mit Putins Russland zu suchen.
*) Das Interview mit Kurt R. Spillmann führte Heiner Hug
Kurt R. Spillmann, Historiker und Konfliktforscher, emeritierter Professor für Sicherheitspolitik und Konfliktforschung der Eidgenössischen Technischen Hochschule Zürich (ETH).