Die Zustimmungswerte für den russischen Präsidenten sind in die Höhe geschnellt. Er ist heute so beliebt, wie seit Jahren nicht mehr. Laut einer Umfrage des unabhängigen russischen Meinungsforschungsinstituts «Lewada-Zentrum» heissen 83 Prozent der Russinnen und Russen Putins Politik gut. Vor dem Krieg, im Januar, waren es noch 69 Prozent.
Die Lewada-Meinungsforscher interpretieren das Ergebnis so: In Zeiten der Krise schart man sich «hinter der Fahne», hinter der Regierung, hinter dem Machthaber.
Und doch stellt sich die Frage, wie kann es sein, dass dieser Krieg Putin derart hohe Werte bringt – dies trotz der vielen russischen Toten und der schwerwiegenden Entbehrungen im Alltag?
Leben in der Blase
Die meisten Russen leben in einer Blase, in einer Welt, wie sie das staatliche Fernsehen und die staatlichen Zeitungen darstellen. Die meisten Russen wissen gar nicht, welches Elend ihre Truppen anrichten. Und die meisten wissen auch noch nicht, wie viele russische Soldaten getötet wurden.
Ein Interview, das der ukrainische Präsident am Sonntag vor russischen Journalisten gab, wurde kurzerhand vom Kreml verboten. In dem Gespräch sprach Selenskyj über die Gräueltaten, die die Russen in der Ukraine verüben.
Die Propaganda funktioniert perfekt
Das Ergebnis der Meinungsumfrage ist ein Beweis dafür, dass die staatliche russische Propaganda, die von einem Feldzug gegen Rechtsextreme und die ukrainischen Nazis spricht, fast perfekt funktioniert. Oppositionelle Stimmen gibt es nicht mehr, die meisten unabhängigen Medien sind zum Schweigen gebracht worden, selbst die Nowaja Gaseta des Nobelpreisträgers Muratow wurde in die Knie gezwungen. Zudem hat Russland den Zugang zu den meisten sozialen Medien gesperrt, inklusive Facebook.
Ted Turner, der Gründer von CNN, sagte einmal vor vielen Jahren: «Die Welt ist ein Dorf geworden. Alle wissen alles über alle und alles. Dank der Satelliten kann man keine Informationen mehr zurückhalten.» Putin hat gezeigt, dass das nicht stimmt. Es ist ihm gelungen, sein autokratisch regiertes Reich fast hermetisch von nicht genehmen Informationen abzuschotten.
«Ukro-Faschisten»
Die russische Propaganda zeige durchaus ihre Wirkung, erklärt das Lewada-Institut: Viele glaubten tatsächlich, die Ukraine würde vom Westen gesteuert. Sie sei eigentlich gar kein richtiger Staat. Die Rechtsextremen, die «Ukro-Faschisten», würden die Russen in der Ukraine töten. Deshalb müsse das Land, wie Putin in seiner Fernsehansprache vor Beginn der Invasion sagte, «entnazifiziert» werden.
Es mag einen weiteren Grund für die 83 Prozent geben. Die russische Gesellschaft ist eingeschüchtert. Ein neues Gesetz bestraft alle mit bis zu 15 Jahren Gefängnis, die «Fake News» verbreiten. Tausende Menschen, die gegen den Krieg auf die Strasse gingen, wurden verhaftet.
Angst, die Meinung zu sagen
So ist es wahrscheinlich, dass viele, die befragt wurden, einfach ihre Ruhe und keine Probleme haben wollen. Sie fürchten, dass kritische Äusserungen zu Putin publik werden könnten. Wer sagt ihnen, wenn sie einen Telefonanruf von einem Meinungsforschungsinstitut erhalten, dass da nicht ein Kreml-Spion am Werk ist? So sagen die Befragten den Befragern eben das, was der Kreml hören will.
Das Meinungsforschungsinstitut «Lewada-Zentrum» ist nach seinem Gründer, dem sowjetischen Soziologieprofessor Juri Lewada, benannt. Das Institut gilt in Russland als «einziges unabhängiges Medienforschungsunternehmen». Das Zentrum wurde immer wieder vom Kreml bestraft und 2016 auf die Liste der «ausländischen Agenten» gesetzt. Recherchen des Instituts werden auch von westlichen Medien übernommen, so vom «Economist» und der «New York Times».
Tiefes Misstrauen gegenüber den USA
Der Kreml appelliert immer wieder an den russischen Nationalstolz und an die «russische Seele». Viele Menschen in Russland seien beim Kriegsbeginn zunächst «geschockt und verwirrt» gewesen, sagt der Soziologe Denis Wolkow, der Direktor von Lewada. Doch dann sei wegen der russischen Propaganda die Meinung aufgekommen, Russland würde belagert und müsse sich um seinen Führer scharen. Einige Befragte hätten gesagt, sie unterstützten Putin zwar «im Allgemeinen nicht, aber jetzt sei der richtige Zeitpunkt dafür».
Viele Russen seien der festen Überzeugung, der Westen wolle Russland schwächen und demütigen. Es bestehe «ein tiefes Misstrauen gegenüber der amerikanischen Aussenpolitik», sagt Wolkow.
«Alle sind gegen uns»
Ein amerikanischer Beamter erklärte, Bidens Worte, wonach Putin ein «Schlächter» sei und «weg müsse», hätten antiwestliche Gefühle nur noch mehr mobilisiert und indirekt Putin gestärkt.
Viele Russinnen und Russen glaubten, so Wolkow, «dass alle gegen uns sind, und dass Putin uns verteidigen müsse». Sonst würden «wir alle bei lebendigem Leibe aufgefressen werden».