Als die Ägypter ihren einstigen Präsidenten auf den Fernsehschirmen auf einer Bahre liegend im Käfig der Angeklagten sahen, meinten viele von ihnen, nun sei die Revolution doch zum Durchbruch gekommen.
Auch ausländische Beobachter sprachen von einem entscheidenden Ereignis. Doch heute, 37 Tage nach Prozessbeginn, ist alles verschwommen und unklar. Der Prozess wurde verwirrend wie die gesamte ägyptische Revolution. Von beiden kann man sich fragen, ob sie echt seien: eine wirkliche, tiefgreifende Revolution und ein echter Prozess? Oder handelt es sich nur um Dekorationen an der Oberfläche der ägyptischen Gesellschaft?
Ein Zirkus der Advokaten
Als an den ersten Prozesstagen die Fernsehkameras zugelassen wurden, löste dies ein Chaos vor dem Tribunal und innerhalb des Prozesssaales aus. Die über 100 Advokaten der Anklage stritten sich mit Geschrei und Schlägen darum, wer sein Gesicht vor der Kamera zeigen konnte.
Manche wollten wilde Verschwörungstheorien vorbringen, nicht weil sie ihnen glaubhaft erschienen, sondern weil sie hofften, dadurch Publizität zu erlangen. Doch Dutzende von Kollegen hinderten sie daran, weil auch sie Fernsehstars werden wollten. Der Richter musste mehrmals das Verfahren unterbrechen.
Freunde und Feinde Mubaraks raufen sich vor dem Gerichtsgebäude
Gleichzeitig demonstrierten vor dem grossen Saal der Polizeiakademie, der als Tribunal dient, die Anhänger und die Gegner Mubaraks. Mit Stockschlägen versuchte die Polizei, beide Seiten zu trennen. Es kam zu Handgreiflichkeiten. Unter den Gegnern Mubaraks befinden sich viele Familienangehörige der 850 Personen, die bei den Unruhen ihr Leben verloren, vermutlich weil sie von Polizisten oder irregulären Kräften des Innenministeriums erschossen wurden. Die Angehörigen fordern Rache. Manche hatten Stricke mitgebracht, die sie als Schlingen geformt hochhielten.
Fortsetzung ohne Fernsehen
Aus den späteren Sitzungen wurden die Kameras verbannt. Doch das Chaos im Gerichtssaal hielt an. Und zwar solange, bis sich die zahllosen Advokaten der Anklage darauf einigten, einen von ihnen zum Sprecher für alle zu machen.
Hohe Polizeioffiziere im Rang von Generälen und Obersten wurden als Zeugen einvernommen. Vor dem Richter sagten alle, die Polizei habe nicht über scharfe Munition verfügt. In einigen Ausnahmefällen seien zwar Schrotpatronen eingesetzt worden – allerdings mit dem klaren Befehl, nur im äussersten Notfall auf die Beine der Demonstranten zu schiessen, dann etwa, wenn diese versuchen sollten, in das Innenministerium einzudringen.
Ungeklärte Erschiessungen
Viele Tote wiesen jedoch Schüsse mit Kriegsmunition auf. Die Einschusslöcher befinden sich an Hinterköpfen, am Rücken und an andern Körperteilen. Die Polizeioffiziere traten als Zeugen der Anklage auf. Doch ihre Aussagen wirkten zugunsten des angeklagten Staatschefs und seiner Mitarbeiter.
Vor dem Staatsanwalt hatten mehrere von ihnen unter Eid ausgesagt, scharfe Munition sei verwendet worden. Doch vor dem Richter bestritten sie dies. Einer von ihnen musste auf Befragen zugeben, er sei zu zwei Jahren Gefängnis verurteilt worden, weil er eine Diskette zerstört habe. Darauf seien die Gespräche der Polizeikommandanten während der kritischen Tage der Volkserhebung aufgezeichnet gewesen. Der Richter ordnete seine Verhaftung wegen Meineides an, nahm aber am Ende der Sitzung seinen Verhaftungsbefehl zurück.
Verwirrung oder Irreführung?
Die Advokaten der Anklage äusserten gegenüber der Presse den Verdacht, die Zeugen seien bestochen worden. Andere seien gezwungen worden, ihre früheren Aussagen zu revidieren. Manche forderten den Rücktritt des Staatsanwalts, der von Mubarak eingesetzt worden war. Der Richter beschloss am 8. September, die Spitzen des Staates als Zeugen vorzuladen. Termine wurden festgelegt: der 11. September für die Befragung Marschall Tantawis, des heutigen Vorsitzenden der herrschenden Militärjunta. Tantawi war zwölf Jahre lang unter Mubarak Oberkommandierender der Streitkräfte. Auf den 12. September ist die Anhörung des Generalstabschefs der Streitkräfte, General Sami Anans, vorgesehen. Er dient heute auch als Vizepräsident der Militärjunta.
Am Tag danach soll der frühere Vizepräsidenten Ägyptens, der Geheimdienstgenerals Omar Soleiman aussagen. Omar Soleiman war für wenige Tage (vom 29. Januar bis zum 11.Februar) von Mubarak zu seinem Stellvertreter ernannt worden, kurz bevor beide von den Streitkräften gestürzt wurden.
Wer ist verantwortlich für die tödlichen Schüsse?
Mubaraks Innenminister, Hussein Adly, gehört mit Mubarak, seinen beiden Söhnen und deren Haupthelfern zu den Angeklagten im Prozess. Es geht zur Hauptsache darum, wer für die Erschiessung der Demonstranten verantwortlich ist. Dem als schuldig Befundenen droht die Todesstrafe.
Gerichtsverhandlung mit Nachrichtensperre
Der Richter ordnete auch an, dass die Medienvertreter für die Tage vom 11. bis zum 15. September aus dem Gerichtssaal verbannt werden. Er verbot auch, über die Vorgänge im Gerichtssaal zu berichten. Dies, wie es hiess, geschehe "um die nationale Sicherheit zu gewährleisten“. Dies sei „im höchsten Interesse des Landes“ und solle einen „ungehinderten Ablauf des Verfahrens sicher stellen“.
Umgehungsmöglichkeiten?
In Israel, wo solche Publizitätsverbote von Gerichtsverhandlungen im Interesse der Staatssicherheit keine Seltenheit sind, pflegt die Presse diese zu umgehen, indem sie Berichte aus den ausländischen Blättern zitiert, die über die im Lande geheim gehaltenen Vorgänge geschrieben werden. Wobei man annehmen kann, dass die Berichte in der Auslandspresse ursprünglich aus Israel kamen. Ob dies in Ägypten ebenfalls geschehen kann und geduldet würde, bleibt abzuwarten.
Eigentlich ist die Öffentlichkeit der Gerichtsverhandlungen ein wichtiges Grundprinzip des Rechtswesens, weil sie Schutz gegen willkürliche Entscheide der Richter bietet.