Ob Boris Palmer wirklich provozieren wollte, wie es ihm viele Kritiker aus der eigenen (grünen) Partei und den diversen Medien vorwerfen? Kann sein. Angst vor Widerspruch und Gegenwind hat der junge Oberbürgermeister der schwäbischen 90’000 Seelen-Universitätsstadt Tübingen noch nie gezeigt. Und wenn schon. Provokation kann schliesslich auch positiv wirken, indem sie aufrüttelt. So gesehen, wäre diese längst überfällig. Es geht um das kürzlich erschienene Buch „Wir können nicht allen helfen. Ein Grüner über Integration und die Grenzen der Belastbarkeit“.
Zwischen zwei Lagern
Nicht erst, aber besonders seit der vor ziemlich genau zwei Jahren zeitweise völlig unkontrolliert geöffneten deutschen Grenze für hunderttausende Kriegs- und Armutsflüchtlinge aus Nah- und Mittelost sowie Nordafrika tobt zwischen Bodensee und der Küste eine immer unerbittlicher gewordene Auseinandersetzung zwischen zwei Lagern. Zwischen Repräsentanten einer mitunter fast schon hysterischen „Willkommenskultur“ für jedermann und einer militanten, selbst gewaltsame Übergriffe nicht scheuenden Abwehrfront. Zwischen diesen beiden Blöcken (Moralismus hier, Nationalismus dort) drohte – und droht noch immer – der von Vernunft geleitete Mittelweg versperrt zu werden.
Nämlich: Einerseits möglichst rasch, tatkräftig, pragmatisch und human den riesigen Problemberg zu bewältigen. Das heisst: Unterkunft, Nahrung, Kleidung, Sicherheit, Beschäftigung, Schule und vieles andere mehr zu gewährleisten. Eingeschlossene Risiken dabei: Überforderungen der Helfer, Pannen, Rückschläge, Undank, Enttäuschungen. Aber, auf der anderen Seite, auch die Pflicht und Notwendigkeit, die Bedürfnisse und Sorgen jenes Teils der eigenen Bevölkerung nicht zu vernachlässigen oder gar völlig aus den Augen zu verlieren, der selbst ebenfalls nicht auf Rosen gebettet ist. Boris Palmer ist schon vor dem Erscheinen dieses Buches oft ordentlich gezaust worden. Nicht zuletzt von seiner eigenen, grünen Partei. Genauer gesagt von den linksflüglerischen „Freunden“, die seine pragmatische Herangehensweise in der Politik als Verrat an der eigentlich doch gemeinsamen, und damit natürlich ausschliesslich moralisch zu begründenden Sache ansehen.
Der Sohn vom „Rebellen“
Noch im vergangenen Jahr war dem 45-jährigen OB von der grünen Bundesspitzenfrau Katrin Göring-Eckardt wegen seiner kritischen Haltung gegenüber dem Willkommensjubel attestiert worden: „Zur Zeit ist er idiotisch.“ In seinem Buch lässt Palmer nicht erkennen, ob er sich von solchen Angriffen getroffen fühlt. Freilich, mit Widerspruch und Widerstand ist er ja aufgewachsen. Sein Vater, der geniale schwäbische Obstbaumbeschneider („Schweizer Schule“) Helmut Palmer, war lange Jahre weit über den Südweststaat hinaus wegen seiner Widerborstigkeit gegen Bürokratien und Amtsschimmel-Wiehern als der „Rebell vom Remstal“ berühmt. Mag sein, dass sich solch Mut vor Fürstenthronen vererbt.
Mut? Braucht es wirklich – und warum – Mut, um einfach zu berichten, was ein Bürgermeister einer mittelgrossen deutschen Stadt mit seiner Verwaltung erlebt und zu bewältigen hat? Von Kommunalpolitikern und Beamten, denen von einem zum anderen Tag offenbart wird, unverzüglich mehr als 2000 unterbringen und versorgen zu müssen – solche, die vor Krieg und Verfolgung geflohen sind, und solche, denen Armut, Hunger und Perspektivlosigkeit den Weg in ein scheinbar gelobtes Land wiesen. Die wenigsten davon konnten (oder wollten) sich ausweisen. Aber um alle musste man sich kümmern. Das, wovon Boris Palmer erzählt, ist in vielen hundert Orten passiert. Aber der 45-jährige Tübinger „Schultes“ ist Mitglied der „Grünen“! Und wer in dieser Partei versuchen möchte, zu erklären, dass in der handelnden Politik zwar ebenfalls moralische Grundsätze herrschen sollten, aber Entscheidungsträger halt oft genug auch zu harten, unangenehmen Beschlüssen gezwungen würden – so jemand hat bei den einstigen Sonnenblumen-Freunden keine besonders guten Karten.
„Geh doch zur AfD“
Es sind keineswegs nur „Wutbürger“, die telefonisch, schriftlich, vor allem aber in den „sozialen“ Medien auf den studierten Historiker und Mathematiker eindreschen. Freundlichkeiten wie „Du gehörst in die AfD“ und Ähnliches kommen nicht selten aus dem eigenen Beritt. Dabei stellt der Tübingen-OB mit keinem Wort die moralische, politische, menschliche und (auf das Asylrecht bezogen) sogar verfassungsmässig festgeschriebene Pflicht zur Hilfe für verfolgte Menschen infrage. Simpel ausgedrückt, möchte er ganz einfach nur eine Diskussionskultur im Lande schaffen, die neben den humanitären Verpflichtungen auch die unvermeidlichen anderen Seiten beleuchtet und berücksichtigt. Jene Probleme also, die viele Menschen beunruhigen und verängstigen. Und zwar ohne dass diese in rechtsnationale oder gar -extreme Ecken gehören.
Mit anderen Worten – es geht dem Autor um eine ehrliche Debatte. Über die Belastbarkeit einer Gesellschaft und um deren Grenzen, über Wohnungsnot, Jobchancen, Bildung, Gewalt und (ja, auch das) Abschiebung. Palmer listet in diesem Zusammenhang einen ganzen Katalog von Beispielen aus dem Alltag auf. Erfreuliche ebenso wie deprimierende. Nicht wenige davon betreffen Verwaltungs- oder Bauvorschriften, die im geordneten Alltag sinnhaft sein mögen, in schwierigen Ausnahmesituationen jedoch wirken wie satirischen Abendprogrammen entsprungen. Ein Exempel: Die Fertigstellung eines Hauses mit dringend benötigten Wohnungen verzögerte sich um vier Monate, weil Wohn-und Schlafzimmer nicht in Richtung benachbarter Tennisplätze liegen dürfen. Warum? Wegen des zu hohen Lärmpegels der Sportplätze. Deshalb mussten die Räume auf die andere Seite verlegt werden, obwohl der dortige Strassenlärm um ein Mehrfaches höher war. Begründung: Ist halt so. Strassenlärm ist zumutbar …
Für oder gegen Flüchtlinge?
Von der „Frankfurter Rundschau“ ist Boris Palmer unlängst einmal als „eine Art Hausgespenst der Grünen“ bezeichnet worden. Das gilt wahrscheinlich nicht für die meisten in seinem eigenen, baden-württembergischen, Landesverband mit Leuten wie dem Ministerpräsidenten Wilfried Kretschmann oder dem Bundespolitiker Cem Özdemir an der Spitze. Und die Anwürfe kommen ja auch keineswegs allein aus dem links-grün-alternativen Lager. Sie klingen nicht selten genauso anklagend und vorwurfsvoll aus der breiten Mitte des gut situierten bundesdeutschen Bildungsbürgertums, das gern Begriffsblasen von sich gibt wie „Menschen, die wir geschenkt bekamen“, „zehntausende (Iraker und Syrer) Ärzte und Ingenieure“. Die eine grenzenlosen Aufnahmebereitschaft ohne Wenn und Aber als „moralischen Imperativ“ einfordern.
In diesem Milieu trifft Palmers Kopfschütteln über Flüchtlingsproteste in Stuttgart auf Unverständnis oder gar Empörung, die sich gegen Notunterkünfte richten und das „Menschenrecht“ einfordern, sich nicht langweilen zu müssen. Da überlegt sich der Tübinger Oberbürgermeister doch schon, ob denn jemand, der vor Krieg, Gewalt und Todesgefahr floh, nicht eigentlich zuvorderst die neu gewonnene Sicherheit schätzen müsste. Was hier zum Ausdruck kommt, ist der alte (und wahrscheinlich nie zu beendende) Streit zwischen „Gesinnungs-“ und „Verantwortungsethikern“. Also zwischen jenen, die jede Handlung ausschliesslich dem Diktat reiner Moral (oder zumindest, was sie dafür halten) unterstellen, und denen, die Entscheidungen und folgenschwere Beschlüsse auch mit den zu erwartenden Konsequenzen verknüpfen.
„Gibt keine saubere, moralische Lösung“
Vor allem in der Politik oder der Wirtschaft gibt es kaum jemanden von Bedeutung, der nicht vor diesem Problem stand. Der sozialdemokratische Bundeskanzler Helmut Schmidt hat mehr als nur einmal über das – wie er es empfand – „selbstgerechte Auftreten meiner Genossen mit dem unsäglich guten Gewissen“ geklagt, welche die Moral wie eine Monstranz vor sich her trügen, ohne sich je für Entscheidungen oder Unterlassungen in Krisenzeiten rechtfertigen zu müssen. Er bezog sich damit unter anderem auf die dramatischen Vorgänge im „deutschen (Terror)Herbst“ 1977 und die innenpolitisch hoch umstrittene Frage der NATO-Raketennachrüstung zu Beginn der 80er Jahre.
Dieser Gegensatz zwischen reiner Lehre und zwangsläufigem, aber vor allem auf Ergebnisse ausgerichteten Pragmatismus zieht sich wie ein roter Faden durch den Erfahrungsbericht von Boris Palmer. Es ist ein Buch, das von der Erkenntnis geprägt ist, dass es auch für die Bewältigung des Flüchtlings- und Asyl-Problems „keine einfache, saubere, moralische Lösung gibt“. Dies auszusprechen, gilt manchem hierzulande in der Tat schon als „Provokation“. Angesichts der massiven gesellschaftlichen wie politischen Auseinandersetzungen ist sie freilich längst überfällig.
Boris Palmer: Wir können nicht allen helfen. Ein Grüner über Integration und die Grenzen der Belastbarkeit. München: Siedler-Verlag, 2017.
ISBN 978-3-8275-0107-3
Gebundene Ausgabe: € 18,00