Vor 100 Jahren, im November 1922, ist der französische Schriftsteller Marcel Proust gestorben: ein Grund und ein Anlass um nachdrücklich auf ihn hinzuweisen. Prousts monumentales Romanwerk «Auf der Suche nach der verlorenen Zeit» gehört für viele zu den bedeutendsten literarischen Werken, die je geschrieben wurden. Und dieses Werk behält auch 100 Jahre nachdem sein Schöpfer gestorben ist seine Ausstrahlungskraft, seine Magie.
Das ist schwer zu begründen, denn Prousts Prosa besteht auf den ersten Blick aus ungefähr allem, was einen Erfolg bei einer heutigen Leserschaft verunmöglicht. Seine Geschichten sind keineswegs spannend, Handlung gibt es in ihnen kaum, thematisiert wird auf Hunderten von Seiten eine Gesellschaft, die längst nicht mehr existiert. Sie besteht aus grossbürgerlichen und aristokratischen Parisern, die sich besuchen, in Salons treffen, um gegeneinander zu intrigieren. Kommt dazu, dass dies alles in endlos langen Sätzen erzählt wird, was das Lesen zu einer Geduldsprobe macht: Man kommt nur langsam voran, und man ist gezwungen, will man wirklich verstehen, was man liest, ein hohes Mass an Konzentration zu wahren.
Nun sind eben diese langen Proustschen Sätze das Schönste, was Literatur zu bieten und zu leisten vermag. Mit ausgesuchten Bildern und Metaphern beladen, melodiös und rhythmisch, tiefgründig schürfend und gleichzeitig leicht, spielerisch mit nahrhaften Themen umgehend, kreieren sie den Proustschen Stil, der die Sprache, das «wie», so sehr kultiviert, dass das «was», Stoff und Inhalt, an Bedeutung verliert. Übt man sich ein ins Lesen der «Recherche», hat man die Geduld, die Kette langer Sätze aufzunehmen, wird man ein Glücksgefühl erleben und es kommt einem schliesslich so vor, als habe Proust seine Sätze auf mich und dich, auf Leser und Leserin von heute, zugeschnitten.
Dabei sind stilbildende, kunstvolle lange Sätze nun nicht gerade das, was in der modernen Literatur en vogue ist. In knalligen Kurz- und Hauptsätzen kommt so vieles daher, was dann ganz vorne auf den Büchertischen der Buchhandlungen liegt. Ein bisschen mehr Proustsche Satzkultur in der Literatur wäre qualitätsmässig ein Gewinn. Vielleicht führt der Gedenktag dazu, dass sich der eine, die andere mit dem französischen Genie beschäftigen und satzmässig etwas von ihm lernen?