Man kann den Staatsbesuch Ahmedinejads in Libanon als blosse Propagandaaktion ansehen, die von den Israeli dazu benutzt wird, ihrerseits Gegenpropaganda zu treiben. Denn der Besuch ändert nichts an den längst bestehenden und auf beiden Seiten allgemein bekannten Tatsachen. Was nicht sagen will, er sei bedeutungslos. Denn seine propagandistische Wirkung kann die Spannungen in der Region weiter verschärfen. Worin bestehen die Hauptprobleme?
Das geteilte Land Libanon
Libanon ist ein tief geteiltes und zerrissenes Land. Es hat die jüngsten Jahre hindurch mit zwei Machtzentren gelebt: einem schiitischen und einer offiziellen Regierung, die sich selbst als einzig legal ansah. In den Jahren von 2006 und 2009 haben sie sich gegenseitig blockiert und gelähmt. Dabei waren die Schiiten im Vorteil, weil ihre „Regierung“ über eine Miliz verfügt, die schlagkräftiger ist, als alle legalen Sicherheitskräfte der Armee und der Polizei zusammen.
Dafür trat die Hizbullah im Juni 2008 den Beweis an, indem sie kurz zu den Waffen griff und sich in Westbeirut durchsetzte. Als Folge davon wurde eine Regierung aus beiden Kräften gebildet, in welcher die Schiiten ein Vetorecht besitzen.
Hinter den libanesischen Schiiten steht seit 1982, das sind nun schon 28 Jahre, Iran als Waffenlieferant, Geldquelle und diplomatischer Schutzpatron. Iran steht in einer ziemlich genauen Parallele zu der Rolle, welche die Vereinigten Staaten gegenüber Israel spielen.
Gegen Israel weil provoziert durch Israel
Ahmedinejad hat bei seinem Besuch dieses seit langer Zeit bestehende Bündnis gefeiert und unterstrichen. Es handelt sich dabei, wie jedermann weiss und wie es Israel so gut wie täglich unterstreicht, um ein Bündnis, das sich gegen Israel richtet. Erstaunlich ist das nicht. Die Allianz begann 1982 mit dem Slogan "Jerusalem befreien", als israelische Truppen nach Beirut vorstürmten und schliesslich dort eindrangen.
Diese Allianz hat sich in der Zwischenzeit verstärkt und gefestigt. Dabei spielte ihr Israel in die Hände. Das geschah erstens durch die Angriffskriege, welche Israel in Südlibanon führte (1982 bis 1985 und erneut 2006). Zweitens hat Israel mit insgesamt 32-jähriger Besetzung grosser Teile des von Schiiten bewohnten libanesischen Südens durch eigene Truppen und libanesische Söldner in israelischen Diensten täglich neuen Hass geschürt.
Gezielte Morde
Diese Besetzung begann 1978 und wurde zwischen 1982 und 2000 in einer erweiterten Zone fortgeführt. Gemeinsam unterhielten die beiden Besetzer das berüchtigte Foltergefängnis von Khiam in der schiitischen Zone. Während dieser Periode entführte Israel den Leiter von Hizbullah, Scheich Abdul Karim Obeid, am 28. 7. 1989. Falls er noch am Leben ist, sitzt er seither in Israel gefangen.
Den nächsten Führer der Widerstandsorganisation, Abbas Mussawi, ermordete Israel zusammen mit seiner Frau, seinem Sohn und vier Begleitern mittels eines Helikopterangriffs in der Bekaa Ebene am 16. Februar 1992. Die Zustände, welche Israel in diesen 30 Jahren schuf, führten zur Abwanderung grosser Teile der schiitischen Bevölkerung in die Vorstädte von Beirut, wo sie zu einer urbanen Unterschicht mit grossen Druckmöglichkeiten auf die Beiruter Regierung anwachsen sollten.
Als dritter Faktor, der die Allianz stärkt, muss der bittere aber schlussendlich erfolgreiche Guerillakampf genannt werden, den die Schiiten gegen die israelische Besetzung führten und immer noch führen.
Die Befürchtungen der Sunniten und Christen
Die andere Hälfte von Libanon, die primär aus Christen und Sunniten besteht (mit Ausnahme der maronitischen Verbündeten des Generals Aoun, die zu Hizbullah halten) fürchtet für die Zukunft Libanons, falls die Konfrontation zwischen Hizbullah und Israel zu einem neuen Vernichtungskrieg der Israeli gegen Libanon führen sollte. Ein solcher Krieg wäre noch zerstörerischer für das ganze Land, als es jener von 2006 gewesen war. Dass ein solcher Krieg ausbrechen könnte, ist wahrscheinlich, falls es mit oder ohne amerikanische Beteiligung zu einem Krieg zwischen Israel und Iran kommen sollte.
Ein Präventivschlag der Israeli gegen Hizbullah, um die Hände für einen darauf folgenden Angriff auf Iran frei zu bekommen, ist ebenfalls denkbar. Ohne einen Irankrieg jedoch dürfte Hizbullah nicht versuchen, einen Krieg gegen Israel auszulösen. Sogar Ahmedinejad war in all seinen Hetzreden darauf bedacht, Hizbullah als Verteidiger Südlibanons zu preisen, nicht als potentielle Speerspitze gegen Israel.
"Falsche Zeugen" als neuer Streitgrund in Libanon
Die alte Konfrontation zwischen den beiden Gegnern in Libanon ist gegenwärtig neu entbrannt, weil das heisse Thema des Mords an dem früheren Ministerpräsidenten Rafik Hariri (vom 14. Februar 2005) in jüngster Zeit wieder auflebte. Seit Monaten schon gibt es Gerüchte darüber, dass der Internationale Gerichtshof, der diesen Mord beurteilen soll, im Begriff sei, neue Anklagen zu formulieren. Diese sollen sich nicht nur, oder nicht alleine, gegen Syrien richten, sondern auch gegen angebliche Agenten Hizbullahs, welche dieser Untat bezichtigt würden.
Der Chef und Führer Hizbullahs, Sayyid Hussein Nasrallah, hat bereits eine Kampagne ausgelöst. Darin wird behauptet, falsche Zeugen versuchten, Hizbullah bei dem Gerichtshof anzuschwärzen. Zusätzlich hat Nasrallah die Vermutung geäussert, diese Zeugen seien durch Israel untergeschoben worden. Falsche Zeugen gab es und dürfte es weiter in dieser Angelegenheit geben. In den vergangenen Monaten wurden zahlreiche Israelis als angeblichen Spione in Libanon gefangen genommen und angeklagt.
Druck von allen Seiten
Diese beiden möglicherweise unzusammenhängenden Umstände erhärten die Behauptungen Nasrallahs in den Augen all jener Libanesen, die ohnehin seine Parteigänger sind. Es ist zu befürchten, dass der offene Zwist zwischen den schiitischen Teilen und dem Rest Libanons wieder ausbrechen könnte, wenn die erwarteten Anklagen offiziell vorgebracht und vor dem Gerichtshof erhärtet würden. Der gegenwärtige Ministerpräsident Libanons, Saad Hariri, Sohn des ermordeten Rafik Hariri, steht unter dem Druck seiner Parteifreunde, dem Gerichtshof grünes Licht zur Durchführung der erwarteten Anklage zu geben. Gleichzeitig üben seine übermächtigen Gegner, der Leute Hizbullahs, ebenfalls gewaltigen Druck auf ihn aus, damit er die Anklagen verhindert.
Ihre militärische Übermacht in Libanon verdanken die Hizbullah Anhänger ihrer eigenen Entschlossenheit und dem politischen Geschick ihrer Führung, aber auch der unentbehrlichen Unterstützung durch Iran. Kein Wunder, dass ihre Gegner das Auftreten Ahmedinejads in ihrem Lande als eine Einmischung in die inneren Angelegenheiten Libanons betrachteten und denunzierten. Die Einladung Ahmedinejads war von dem libanesischen Staatschef, dem Maroniten und ehemaligen Oberkommandanten der Armee, Michel Solaiman, ausgesprochen worden.
Die iranischen Interessen in Libanon
Für die Iraner ist diese Allianz immer ein wichtiges Mittel gewesen, ihre von Teheran angestrebte Rolle als Regionalmacht im Mittleren Osten zu unterstreichen. Je mehr sich Iran durch Kriegsdrohungen aus Israel und aus den USA und durch den Wirtschaftsboykott, den die USA weltweit durchzusetzen suchen, bedroht fühlt, desto wichtiger wird es für Teheran, seinerseits seine Macht auf seine nahöstliche Umwelt auszudehnen und sich dadurch eine über die Landesgrenzen hinausreichende eigene Machtsphäre zu schaffen. Dies ist den Politikern und Militärs Irans besonders in jenen Staaten gelungen, in denen bedeutende schiitische Bevölkerungsgruppen leben, vor allem in Libanon und im Nachkriegs Irak.
Falls die amerikanischen Vermutungen und die israelischen propagandistisch eingefärbten Anklagen bezüglich des von Iran abgestrittenen Atomwaffenprogramm einen Kern von Wahrheit enthalten, sollte man folgendes bedenken: Dieses Programm könnte darauf beruhen, dass Iran angesichts der Atomwaffen bei seinen wichtigsten Gegenspielern in der Region, nämlich in Israel und in Pakistan, sowie bei seinem gefährlichsten politischen Gegner, den USA, gute Gründe hätte, seinerseits auch Atomwaffen anzustreben.
Kein kollektiver Suizid
Nordkorea liefert gegenwärtig ein Beispiel dafür, wie gut der Abschreckungseffekt funktioniert, den der Besitz von Atomwaffen mit sich bringt, sogar wenn sie nicht gebraucht werden. Sollte Iran tatsächlich heimlich an einem Atomwaffenprogramm arbeiten, so geschähe das nicht notwendigerweise, um Israel zu zerstören, wie die israelische Propaganda auszubreiten versucht. Die atomare Überlegenheit der Israeli ist so gross und jene der Amerikaner so erdrückend, dass ein atomarer Angriffsversuch auf Israel für Iran einer kollektiven Selbstmordaktion gleichkäme.
Die Propagandisten in Amerika und in Israel mögen darauf erwidern, es gäbe ja solche Selbstmordtendenzen in Iran. Was jedoch höchstens teilweise zutrifft und damit wiederum eine propagandistische Aussage bleibt. Solche Selbstmordtendenzen bestehen bei bestimmten Individuen, was immer die Gründe sein mögen, durch die sie dazu veranlasst werden. Doch dass sie auch beim Staate Iran und dessen Lenkung bestünden, geht daraus nicht zwingend hervor. Was Israel wirklich verlöre, wenn es eine iranische Atomwaffe gäbe, wäre sein Atomwaffenmonopol im Nahen Osten.
Die unsichere Position Ahmedinejads
Ahmedinejad, der in Teheran nicht nur bei der mit aller Gewalt niedergehaltenen "grünen" Opposition, sondern auch im iranischen Parlament und bei vielen der führenden Geistlichen auf scharfe Kritik gestossen ist, benutzte den Besuch und die jubelnden Massen libanesischer Schiiten dazu, sein Prestige zuhause wieder aufzupolieren. Er stützt sich vor allem auf die Armee der Revolutionswächter, die als parallele "islamische" Armee neben der regulären besteht. Die Revolutionswächter, welche er immer bei guter Laune halten muss, dürften in erster Linie sein Zielpublikum sein. Die Wächter sind heute die wohl wichtigste Macht im inneren Ringen der unterschiedlichen Machtkomponenten Irans.
Die hier geschilderte höchst labile und sehr komplexe Gesamtkonstellation wird durch die Propaganda aller Beteiligten ihrer Subtilitäten entkleidet und je nach der erwünschten Tendenz hin entstellt und verfälscht. Was für alle Beteiligten und auch für jene, die nur am Rande oder gar nicht mitwirken, grosse Gefahren mit sich bringt. Denn ein Iran-Krieg wäre für alle Beteiligten, aber auch für die ganze nicht beteiligte Welt, durch seine wirtschaftlichen aber auch die moralischen Folgen allgemeiner Zerrüttung, nichts geringeres als eine Katastrophe. Sie ginge weit über das Mass alles bisher im Nahen Osten provozierten Unheils hinaus.