Jeder Mensch ist ein Einzelfall. Erst als solcher bekommt er seine Würde und kann seine Würde verteidigen. So frevelhaft das klingt, auch Menschen, die kleinere oder doch grosse Verbrechen begangen haben, haben eine Würde. Auch Täter haben eine. So wie die Opfer auch, so wie ich, so wie Sie.
Grösste Herausforderung
An diesem Fundament darf nicht gerüttelt werden, es zu verteidigen ist die Aufgabe des demokratischen Staates und einer freien Justiz. Die Justiz anzuketten und Menschen ohne eine klare und faire Einzelfallprüfung abzuschieben, ignoriert das und setzt den demokratischen Staat in die Nähe eines autoritären.
Die Aufgabe, diese Würde in Schutz zu nehmen, hat nicht nur damit zu tun, dass man den Anderen verteidigt. Wenn man zulässt, dass die Würde des Mitmenschen gemindert wird, mindert man seine eigene. Ja, auch dann, wenn es um Menschen geht, die Schlimmes begangen haben; ich weiss, es ist eine der grössten Herausforderungen für unser Einfühlungsvermögen.
Imaginierte Idealgesellschaft
Und es gibt einen zweiten Punkt: Populisten aller Couleur und zu allen Zeiten lieben die Vorstellung eines reinen, sauberen Volkskörpers. Alles Schmutzige, Störende, Unpassende soll entfernt, herausgeschnitten werden. Dann wird alles gut. Sie sind besessen davon. Zur Not sollen mehr Kontrolle, mehr Polizei, mehr Disziplinierung dazu helfen. (Als Psychologe weiss ich: Wer mit solchen Vorstellungen in eine Therapie kommt, leidet unter Zwangsgedanken.)
Aber sie werden sich nie damit zufrieden geben, sie werden nie aufhören, der Populismus überlebt nur dank der Proklamierung des dauerhaften Notstandes. Immer ist irgendetwas da, was entfernt, getilgt werden muss. Momentan sind die Schweizer Populisten mit dem Rand der Gesellschaft beschäftigt, das lieben sie: Ausländer, Kriminelle. Doch sie werden nie loslassen, bis ihre imaginierte Idealgesellschaft, eine saubere und reine, realisiert ist. Auch wenn dann nur noch ihre vermeintlich weissen Westen übriggeblieben sind.
Catalin Dorian Florescu, 1967 in Timisoara, Rumänien, geboren, lebt nach Aufenthalten in Italien und den USA seit 1982 in der Schweiz, seit 2001 in Zürich. Studium der Psychologie und Psychopathologie an der Universität Zürich. Am 10. Februar erscheint im C. H. Beck Verlag sein sechster Roman: "Der Mann, der das Glück bringt".