Im Mai 2014 wählen 400 Millionen stimmberechtigte Bürgerinnen und Bürger in den Mitgliedländern der EU zum ersten Mal seit Inkrafttreten des Lissabon-Vertrags (insgesamt aber zum achten Mal) ihre Abgeordneten ins Europäische Parlament. Zu verteilen sind 751 Sitze. Zusammen mit dem Rat der EU bildet dieses Parlament die gesetzgebende Gewalt der EU. Das EU-Parlament ist weltweit die einzige direkt gewählte supranationale Institution.
Zwölfmal jährlich finden die jeweils viertägigen Plenarsitzungen statt. In einem Sonderzug fahren dann Parlamentarier, Angestellte, annähernd tausend Dolmetscher (es gibt 24 Amtssprachen) sowie Journalisten und Lobbyisten von Brüssel nach Strassburg zum offiziellen Sitz des EU-Parlaments. Diese umständliche „Züglerei“ verdanken sie Frankreich, das eisern an diesem Anachronismus festhält. Denn alle Ausschüsse und Fraktionen tagen in Brüssel. Dieser bürokratische Irrsinn ist kein Aushängeschild für effiziente Strukturen und wird in der Bevölkerung denn auch despektierlich mit „Wanderzirkus“ bezeichnet. Das Volk macht dann die EU oder Brüssel dafür verantwortlich – schon beginnen die vielen Missverständnisse.
Projektionsfläche EU
Seit einigen Jahren hagelt es aus einzelnen EU-Staaten Kritik an der Europäischen Union. Allzu gerne verweisen nationale Regierungsvertreter aus der Eurozone auf „Brüssel“ als Sündenbock für alle Probleme, um davon abzulenken, dass diese oft ursprünglich hausgemacht sind. (Als Beispiel: Frankreich und Italien sind seit über dreissig Jahren unfähig, ihre Haushaltbudgets auszugleichen).
Dass zudem in Brüssel gefasste Beschlüsse später in einzelnen Ländern nicht umgesetzt werden, zeigt auch, dass das System der nationalen Unverbindlichkeiten an seine Grenzen stösst und so natürlich nicht funktionieren kann. Die Taktik der Landesregierungen hat zur Folge, dass grosse Teile ihrer Bevölkerungen in nationalistische Töne einstimmen.
Das EU-Bashing wird auch in der Schweiz erfolgreich betrieben. Auf der Insel der Glückseligen, umbrandet vom EU-Meer, können Politiker punkten, wenn sie die EU als monströses Fehlkonstrukt abstrafen und unser Land als einzigen Hort der Freiheit vergolden. Da wie dort bleiben viele Gründe für diese Brandreden hinter populistischen Schlagworten verborgen. Es genügt vollauf, grossspurig jemand anderen für viele der Probleme unserer Zeit verantwortliche zu machen.
Die EU im Zeitenwandel
Offensichtlich reicht es 2014 – bald siebzig Jahre nach der Gründung – nicht mehr, an die ursprüngliche Geschichte des Friedenprojekts als Ziel der EU zu erinnern. Vergessen ging wohl auch, was vor 20 Jahren ein Paul Pierson, Professor Harvard University, sagte: „Die EU-Integration sollte als wegabhängiger Prozess angeschaut werden, welcher ein fragmentiertes, aber erkennbar mehrstufiges europäisches Gemeinwesen hervorbringen wird.“ Nach Jahrhunderten blutiger und häufiger Kriege endlich in Frieden und Freiheit leben zu können, das war für die Gründungsväter die europäische Vision schlechthin. Drei Generationen später versinken solche grosse Taten und Motive im Dunstschleier der Geschichte. Die Banalität des Selbstverständlichen übertüncht diesen leisen und doch so spektakulären Erfolg.
Braucht die EU also eine neue Geschichte, um zeitgemäss zu kommunizieren, wie sie „der Gesellschaft nachhaltig Mehrwert verschaffen kann“, um das vorerst mal provokativ im Jargon der Ökonomen auszudrücken? Ja, es braucht sie, definitiv. Doch diese neue Erzählung darf natürlich für einmal nicht von den Einflüsterern der globalisierten Wirtschafts- und Finanzelite in Umlauf gesetzt werden. Zu offensichtlich sind Deregulierungsstrategien der letzten Jahrzehnte Teil des Problems. Das Mantra des ewigen Wachstums – koste es, was es wolle – ist weder nachhaltig, noch zukunftstauglich.
Da braucht es wohl den energischen Perspektivenwechsel, um von diesen Märchen Abstand zu nehmen und für die junge Generation ein zündendes Narrativ zu finden. Jugendliche Arbeitslose denken über den Fortschritt anders als gestandene Wirtschaftskapitäne. Auch anders als viele nationale Führungsgrössen im Rat der europäischen Staats- und Regierungschefs.
Kleinerwerden
Einen ersten verblüffenden Vorschlag macht Berthold Franke, Institutsleiter und Europabeauftragter des Goethe-Instituts in Brüssel. Er wettet gar darauf, dass sich zukünftig wegen der Überbelastung der Ökosphäre die Regeln der Weltökonomie drastisch zu verändern hätten. „Offen ist allein, ob diese Veränderung als Ergebnis brutaler Verteilungskämpfe oder in kooperativen Verfahren erfolgt“ (ZEIT, 2.1.2014). Eindringlich plädiert Franke dafür, das Kleinerwerden zu lernen. Er erinnert daran, dass wir die Entstehung vieler europäischer Demokratien dem Verlust ihrer vormaligen Macht und Grösse verdanken. Der kluge Verzicht auf Grösse – ein vielversprechendes EU-Modell für die Zukunft? Angesichts der Tatsache des laufenden relativen Grössenverlusts innerhalb der Weltgemeinschaft – mit Blick auf China, Indien, Brasilien – ist für die EU diese Selbstbesinnung überfällig.
Kleinerwerden als Fortschritt? Diesen Denkwandel einem aufmerksam zuhörenden Publikum erfolgreich erzählen? Die Abkehr vom Machoprinzip der Grösse und Macht hin zu einem modernen, genügsamen, quasi emergenten Leitbild? Wer schreibt dazu die packende Erzählung, den neuen Harry Potter im Zauberinternat, genannt Europäische Union?
Die grosse Skepsis
Antieuropäische Kräfte und Parteien sind im Aufwind. Der Biertrinker Nigel Farage von der Ukip in Grossbritannien, der smarte Bernd Lucke der AfD in Deutschland, die selbstbewusste Marine Le Pen des FN in Frankreich oder der Komiker Beppe Grillo des Movimento 5 Stelle in Italien – sie alle agitieren, versprechen und punkten. Warum? Sie instrumentalisieren die verbreiteten Ängste nationaler Bevölkerungen. Sie thematisieren die grosse Skepsis vieler Menschen, die durch die Segnungen der Globalisierung zu Verlierern wurden. Niemand sollte es diesen Leuten übelnehmen, wenn sie aus ihrer Perspektive und nach ihren persönlichen Erfahrungen im anonymen Brüssel eine akute Bedrohung sehen – es wir ihnen das zudem auch tagtäglich eingeredet.
Die Eliten sind zum Feindbild geworden. Der geschilderten Entwicklung der letzten Jahre mehr oder weniger tatenlos zuzuschauen, ist ihr Versagen. In mehreren EU-Ländern fehlt es – natürlich – nach wie vor an finanzpolitischer Verantwortung und Disziplin. Mehrheitlich ausgeblieben sind hier auch die seit Jahrzehnten fälligen Strukturreformen. Ob die Weichen mit der laufenden bürokratischen Zentralisierung falsch gestellt wurden? Ursprünglich war doch von Harmonisierung die Rede.
Da ist der Entscheid, ob ein „kleiner werdendes Europa“, ein „weniger Europa“ oder ein „anderes Europa“ Erfolg verspricht, eigentlich zweitrangig. Wenn diese Wahlen tatsächlich einen politischen Quantensprung darstellen sollen, wie das Politiker formulieren, dann müssen eben diese Verantwortlichen fundamental und rasch umdenken. Weg von „Es gibt nur diesen einen Weg“, weg vom Totschweigen des Geburtsfehlers des Euros, weg vom eloquenten Bail-out der Bankenwelt, hin zu handgreiflichen Lösungen mit sichtbaren Verbesserungen für die betroffenen Menschen in den Mitgliedstaaten.
Die Jugendarbeitslosigkeit ist die grösste Bedrohung des Gedankens der EU selbst. Das unbedingte Festhalten an „nicht verhandelbaren Grundwerten“ ist die zweite. Jede Idee ist zeitgebunden, jede Entwicklung kann aus dem Ruder laufen, jedes Prinzip muss im zeitlichen und gesellschaftlichen Kontext bestehen. Darum darf es auch modifiziert werden, wenn die „klimatischen“ Bedingungen geändert haben. Und die dritte Gefährdung der EU ist hausgemacht: die vereinheitlichende Regulierungswut nationaler Besonderheiten, der Normierungswahn, der administrative Kräfte bindet, deren Kosten-Nutzen-Verhältnis ungenügend, deren erzwungene Durchsetzung kontraproduktiv ist.
Dezentrale Europapolitik
Eine kritische Bestandesaufnahme nach siebzig Jahren Europapolitik ist angebracht. Diese Meinung vertritt auch Hans-Ulrich Wehler, emeritierter Professor für Allgemeine Geschichte an der Universität Bielefeld. Er sieht das ursprüngliche Unionsziel der wirtschaftlichen Integration als weit gediehen an. Das Systemziel eines zentral gesteuerten Bundesstaates dagegen hält er für realitätsfremd – es gibt eben kein europäisches Staatsvolk. Zusammen mit dem Historiker Dominik Geppert plädiert er deshalb in der ZEIT für einen Kurswechsel. „Im Kontext einer entschieden dezentralisierten Politik, die Europa als flexibles Netzwerk statt als träge, angefochtene Grossorganisation versteht, […] liesse sich die Mitwirkung Londons in der Union ungleich leichter als bisher bewerkstelligen. Auf diese Kooperation wird [...] kein vernünftiger Europäer verzichten wollen“.
Auch hier begegnen wir der Idee, dass es keinesfalls einem Verrat an den ursprünglichen Ideen gleichkäme, wenn einzelne jener Grundüberlegungen konstruktiv hinterfragt würden mit dem Ziel eines realistischen, zeitgemässen Leitmotivs vor Augen.
„Wetten auf Europa“
George Soros, zweifellos ein gewiefter Kenner des globalen Finanzsystems, hat das Buch mit diesem Titel geschrieben. Er fragt, ob sich die EU an ihre einmalige historische Ursprungsidee – die Erkenntnis, dass auf einem kriegerischen Kontinent Friede nur durch Kooperation dauerhaft möglich ist – erinnert. Oder ob jetzt ein Rückfall in nationale Egoismen, die den Kontinent einst entzweiten, droht.
Obwohl Soros in seiner Fehleranalyse nüchtern feststellt, dass „Staatsversagen und Verschwendung in den Krisenländern sowie Strukturfehler der Währungsunion“ zum gegenwärtigen Schlamassel beigetragen haben, bleibt er optimistisch. Jetzt braucht es Vermittler: zwischen den Staaten innerhalb Europas und, wohl am wichtigsten, zwischen Deutschland und dem Rest Europas. Gemeint ist damit, dass es nicht genügt, wenn die führende deutsche Politikerin in „steriler Lego-Sprache vorgefertigte Phrasen aus hohlem Plastik zusammenzimmert“. Die Strategie des Aussitzens gefällt ihm ganz offensichtlich auch nicht.
Darum erinnert auch Soros daran, worum es beim Projekt der EU eigentlich geht: um das Ideal einer offenen und freien Gesellschaft, die natürlich in die ganze Welt ausstrahlt. Er wettet auf Europa und erinnert gleichzeitig daran, dass „wir verstehen müssen, manchmal eben nicht alles zu verstehen. Dass unsere sozialen und wirtschaftlichen Abläufe nicht immer von rationalen Erwägungen gesteuert werden, sondern von falschen oder fehlerhaften Vorstellungen und Erwartungen aller beteiligten Parteien und Personen“.
Europäische Versöhnung
Die Rückfahrkarte in die nationale Isolation zu lösen als Reaktion auf momentane Probleme ist angesichts der verheerenden Erinnerungen an vergangene Jahrhunderte (oder der aktuellsten Äusserungen einer Putin-Weltsicht) keine gute Idee, eigentlich überhaupt keine Option. Joachim Gauck, Bundespräsident Deutschlands, im April 2014 auf Besuch in der Schweiz, formulierte diese Gedanken. Bescheiden auftretend, überzeugend in der Sache, versöhnlich im Ton fragte er sich: Warum das grundsätzliche Misstrauen gegenüber der EU bei den mehrheitlich positiven Erfahrungen der letzten siebzig Jahre?
Ist es der Abschied von den überschaubaren Räumen des letzten Jahrhunderts, der viele Menschen verunsichert? Woher kommt der Dauerfrust gegenüber der politischen Wirklichkeit? Gauck sprach ruhig, überzeugend. Das Publikum spürt seine Ehrlichkeit.
Seine Botschaft an alle Menschen der einzelnen europäischen Nationen: Wir Bürgerinnen und Bürger sind das Volk. Ich persönlich bin also mitverantwortlich dafür, dass mein Leben ohne Führer, König oder Kaiser gelingt. Die Errungenschaft der Freiheit leuchtet überall. Der Raum des Rechts garantiert unseren einmaligen Raum des Friedens.