Am Montagabend hat im Zürcher Bernhard-Theater der Schweizerische Buchhändler- und Verlegerverein (SBVV) zum zweiten Mal einen „Buchmenschen des Jahres“ ernannt. Letztes Jahr wurde Daniel Keel, der Gründer des Diogenes-Verlags ausgezeichnet. Geehrt wird in diesem Jahr die Literatur-Kritikerin Luzia Stettler. Sie erhält die Auszeichnung für ihre Literatur-Sendungen auf Radio DRS1 und ihr jahrelanges Engagement für das Buch.
Wenn die Bernerin Luzia Stettler liest, liest sie meist in ihrer privaten Bibliothek, in der mindestens 8‘000 Bücher stehen. Dieser riesige Raum war einst die Heubühne eines grossen Bauernhauses im Kanton Freiburg. Zusammen mit ihrem Mann hat sie diesen hellen Raum zu ihrem Bücher-Olymp umgebaut. Dort liest sie nicht nur, dort produziert sie auch viele ihrer Sendungen.
Marianne Sax, die Präsidentin des SBVV lobt sie mit den Worten: „Ihre Sendungen sind immer mit viel Herzblut produziert und sprechen ein breites Publikum an. Der Buchhandel profitiert von ihren Sendungen, denn die Nachfrage nach Büchern, die Luzia Stettler in die Sendung nimmt, steigt jeweils spürbar an. Das ist umso schöner, als sie oft auch eher unbekannte Schweizer Autorinnen und Autoren in der Sendung präsentiert.“
Seit 23 Jahren stellt sie auf Radio DRS Bücher vor. Sie ist Mitglied der Literaturredaktion von Schweizer Radio und Fernsehen (SRF). Sie gehört auch der Programmkommission der Solothurner Literaturtage an. Mehrmals hat Luzia Stettler den Berner Radiopreis für die beste Radiosendung des Jahres gewonnen. Ausgezeichnet wurde sie unter anderem 2005 für ihr Porträt über die Freiburger Sängerin Arlette Zola sowie 2008 für ihre Sendung „Familientreffen der Kummerbuben“; dafür war sie mit den einstigen Kinderstars 40 Jahre nach den Filmaufnahmen zurück an den Drehort ins Emmental gereist.
Begonnen hatte Luzia Stettler ihre journalistische Karriere 1981 auf der Kulturredaktion der „Berner Zeitung“. Sie war dann am Aufbau von Kulturradio Förderband beteiligt und wechselte 1988 zu Radio DRS1, wo sie u.a. für die Konsumentensendung „Espresso“, die Hintergrundsendung „Doppelpunkt“ und die Nachmittagssendung „Siesta“ arbeitete. In den 90er-Jahren moderierte sie zudem am Schweizer Fernsehen das Frauenmagazin „Lipstick“.
Neben dem „Buchmenschen des Jahres“ hat der SBVV am Donnerstagabend weitere Preise verliehen: Der Rotpunktverlag wurde „Verlag des Jahres“. Die Basler Buchhandlung „Bider & Tanner“ ist „Buchhandlung des Jahres“. Als beste Filiale wurde „Schuler Bücher AG, Bahnhof Chur“ ausgezeichnet. Newcomer des Jahres ist der „Secession Verlag für Literatur“.
“Journal 21“-Interview mit Luzia Stettler
"Journal 21": Luzia Stettler, Sie sind jetzt zum „Buchmenschen des Jahres“ geadelt worden. Wie viele Bücher lesen Sie pro Jahr.
Luzia Stettler: Ich denke, es werden so an die hundert bis hundertfünfzig Bücher sein die ich wirklich zu Ende lese. Ich bin eine sehr konservative Leserin, das heisst, ich lese kaum je zwei Bücher parallel. In dieser Beziehung bin ich alles andere als eine „Multi-Taskerin“. Zum Genuss des Lesens gehört auch das „sich Einlassen auf ein Buch“ – und dieses Vergnügen will ich mir auch nicht durch das „professionelle Lesen“ verderben.
Wie viele Stunden pro Tag lesen Sie?
Ich lese im Schnitt pro Tag 2 – 3 Stunden; am Wochenende oder in den Ferien können es auch 5 – 8 Stunden sein. Ich habe einen langen Arbeitsweg, und den „fülle“ ich meistens mit Lese-Zeit. Und dann ist für mich meistens der Abend reserviert für Lese-Stunden.
Sie haben ja viele persönliche Kontakte mit Autoren. Wer hat Sie besonders beeindruckt?
Es gibt sehr viele Autorinnen und Autoren, die ich persönlich getroffen habe, und an die ich gerne zurückdenke: Mit dem amerikanischen Schriftsteller John Irving zum Beispiel habe ich sicher fünf Interviews im Laufe von 20 Jahren geführt –anfänglich war er sehr zugänglich und herzlich, dann spürte ich, wie er immer mehr zum Star wurde…und sein Verhalten dementsprechend zurückhaltender wurde.
Seine Bücher gehören noch heute zu meinen Favoriten, weil er schreibt, wie ich es liebe: Er erzählt Geschichten nach alter Tradition – wie es die grossen Romanciers des 19.Jahrhunderts verstanden – Dickens, Tolstoi etc.: grosse Gefühle, spannende Plots, liebenswürdige Figuren; aber er erzählt aus der Gegenwart und schafft es, den Irrsinn unserer Zeit irgendwie auf den Punkt zu bringen…..
Unvergesslich ist mir auch die Begegnung mit Margarete Mitscherlich – eine charismatische Person, deren Buch „Die friedfertige Frau“ mich nachhaltig geprägt hat. Auch die grosse Dichterin Ilse Aichinger, die im Herbst 90 Jahre alt war, hat mich tief beeindruckt, und ihr Roman „Die grössere Hoffnung“ gehört für mich zum grossartigsten Leseerlebnis.
Eine wichtige Rolle in meiner „Lese-Biografie“ spielt Thomas Mann: vor allem sein Roman „Buddenbrocks“ hat mich als 15-jähriges Mädchen fasziniert. Nie hätte ich mir träumen lassen, dass ich dann 35 Jahre später seinen Lieblings-Enkel Frido Mann kennenlernen würde; mit ihm habe ich mich dann ausführlich über die Grosseltern Katja und Thomas Mann unterhalten und bin sogar gemeinsam mit ihm in Kilchberg vor dem Grab gestanden….
Die schönste „Freundschaft“ hat mich mit Johannes Mario Simmel verbunden: Ich habe ihn 1991 bei einem Interview erstmals getroffen; damals war er noch der erfolgreichste Schriftsteller im deutschsprachigen Raum mit einer Gesamtauflage von 80 Millionen. Ich hatte erwartet, dass ich wohl unter den Journalistinnen die Nummer 20'573 war, die bei ihm anklopfte und hatte mich auf einen kühlen, unpersönlichen Empfang gefasst gemacht. Aber Johannes Mario Simmel empfing mich ausserordentlich freundlich und zuvorkommend in seiner wunderschönen Wohnung in Zug. An die helle Atmosphäre und die wertvollen Gemälde an den Wänden erinnere ich mich heute noch. Und kaum begannen wir unser Gespräch, streikte mein Tonbandgerät. Ich schwitzte Blut, aber Johannes Mario Simmel blieb gelassen und bot mir an, sein eigenes Aufnahmegerät im Keller zu suchen – er sei ja auch einmal, kurz nach dem 2. Weltkrieg, Reporter unter anderem für die Zeitschrift „Quick“ gewesen. Ich zweifelte, ob sein Tonbandgerät den Qualitäts-Standards von DRS 1 genügen würde, aber liess ihn suchen – unterdessen dreschte ich auf mein Gerät ein – und siehe da: plötzlich funktionierte das streikende Ding wieder. So konnten wir das Gespräch, mit etlicher Verspätung, doch noch durchführen.
Ich schämte mich grenzenlos, aber irgendwie blieb ich Johannes Mario Simmel in Erinnerung: Als die Sendung dann drei Wochen später ausgestrahlt wurde, meldete er sich sofort per Telefon im Radiostudio, um mir zu gratulieren. Ich hatte nie im Leben erwartet, dass er sich die Sendung überhaupt anhören würde. Und von da an blieben wir im Kontakt – stets per Sie, aber beim Vornamen: Ich sandte ihm jede Weihnacht eine Neujahrskarte – und er rief mich immer in der Altjahrswoche an, und wir unterhielten uns mindestens während anderthalb Stunden über Gott und die Welt – an diesem Ritual hielten wir bis zu seinem Tode vor zwei Jahren fest.
Ab und zu besuchte ich ihn auch in Zug; er scheute öffentliche Auftritte – einmal, in Bern, war er bereit für eine Lesung unter der Voraussetzung, dass ich das Gespräch mit ihm moderiere. Er war ein unglaublich anregender, liebenswürdiger, und wacher Mensch. Und vor allem auch ein politisch engagierter Schriftsteller : er hielt sich an das Sprichwort von Brecht „Man muss die Wahrheit mit List verbreiten“ – für ihn bedeutete dies: süffige Geschichten schreiben, um die Menschen aufzurütteln und neugierig zu machen auf Themen wie Genmanipulation, Rechtsradikalismus oder Organhandel. Ich finde, er wurde zu Unrecht als Schund-Autor abgetan. Und er hat mir auch fürs Leben einen wichtigen Grundsatz mitgegeben: er hielt sich an die Devise „Man muss den Menschen mit Wohlwollen begegnen“. „Wohlwollen“ – ein altmodisches Wort, aber es kommt mir oft in den Sinn, wenn ich an uncharmante Leute gerate…..Und ich denke das ist eine Haltung, die gerade Medienleuten gut anstehen würde…
Wie sind Sie zu diesem Beruf gekommen?
Eigentlich wollte ich immer zum Theater und bin dann nach der Matura auch an die Schauspielschule gegangen; so gesehen hat mich eigentlich mehr die Theater-Literatur von Brecht, Ibsen, Hauptmann geprägt – und weniger die Belletristik. Während der Ausbildung spielte ich Kabarett bei den „Berner Rohrspatze“, und als mich der Direktor der Schauspielschule eines Tages vor die Wahl stellte: entweder Du gibst das Kabarett auf oder die Schule, entschied ich mich schweren Herzens gegen die Schule. Aber dank meines Interesses an Theater und meiner Freude am Schreiben ergatterte ich mir dann eine Volontariats-Stelle bei der „Berner Zeitung“ und rutschte dann ein Jahr später in die Redaktion nach, als eine Theaterredaktorin im Kulturressort gesucht wurde. Und vom Theater ist der Weg kurz zur Literatur: d.h. schon bald begann ich Anfang der achtziger Jahre auch über Literatur zu schreiben, verfasste auch Autoren-Porträts für die „Annabelle“ und die „Sonntagszeitung“ , war am Aufbau des Kulturradio „Förderband“ tätig, wo ich auch viele Büchersendungen realisierte; 1988 folgte dann der Wechsel zu Radio DRS 1.
Wie informieren Sie sich, was auf dem Markt angeboten wird.
An den Buchmessen „Frankfurt“ und „Leipzig“; wo ich gute Kontakte zu den Presseleuten habe, die mich auf die bevorstehenden Publikationen aufmerksam machen; ich lese die Verlags-Vorschauen, gehe oft in Buchhandlungen, lese Besprechungen im Feuilleton und gehe mit offenen Ohren und Augen durchs Leben: immer wieder bekomme ich auch aus dem Publikum wertvolle Hinweise auf gute Bücher, die ich mir dann näher anschaue.
Eine Buch-Kritikerin wird ja immer auch gehasst, gehasst von Leuten, deren Bücher sie nicht so verrückt gut finden. Hatten Sie da schon Probleme?
Nein, Hass habe ich noch nie gespürt. Und meistens bespreche ich ja Bücher, die mir eher gefallen – eine Radiosendung nur mit negativer Kritik zu füllen wäre schade für die Sendezeit.
Gute Kritiken sind ja Gold wert. Versuchen Verleger Sie zu beeinflussen?
Sicher erhalte ich viele Anrufe und Mails von Verlegern, die mir ihre Bücher schmackhaft machen wollen; das ist ja auch ihre Aufgabe. Aber ich fühle mich überhaupt nicht unter Druck. Da halte ich es wie Elke Heidenreich: ich bleibe meinem Geschmack treu und empfehle nie etwas contre coeur. Auch sonst ist mir Elke Heidenreich ein Vorbild: ihre Art, Literatur zu vermitteln, ist für mich vorbildlich: sie scheut sich nicht, ein breites Publikum mit ihren Empfehlungen anzusprechen, und bleibt sich trotzdem immer treu: ihre Authentizität überzeugt – und auch sie investiert viel Herzblut – und das springt über.
Was halten Sie vom E-Book?
Damit habe ich kein Problem – ich brauche es nicht – aber ich denke: was zählt, ist der Inhalt eines Buches – und der geht ja im E-Book nicht verloren.
Was halten Sie von der Buchpreis-Bindung?
Bin ich absolut dafür.
Heute Abend um 22.00 Uhr haben Sie diesen Preis bekommen. Wenn Sie, gerade jetzt ihrer besten Freundin ein Buch empfehlen würden, welches wäre das?
Mein Favorit im Moment: „Der alte König in seinem Exil“ von Arno Geiger. Berührender kann man das Thema „Alzheimer“ und das Thema „Vater-Sohn-Beziehung“ nicht in Literatur verwandeln. Mir sind die Tränen gekommen beim Lesen. Und ich liebe es, wenn mich ein Buch emotional anspricht oder etwas in mir berührt, das ich nie erwartet hätte.
(Das Interview mit Luzia Stettler führte Heiner Hug)