Den Grund dafür zeigt sehr deutlich ein Leitartikel der Zeitung "Al-Masri al-Youm", der am Morgen nach dem Unglück erschien. Dort findet man die Formulierung: "Dies ist zum ersten Mal, dass die ägyptische Armee eine christliche Demonstration angegriffen hat. Dies ist zum ersten Mal dass die Soldaten eine Demonstration von Zivilen angriffen. Dies ist zum ersten Mal, dass die Krise überzuborden droht in allgemeine Kritik an der Führung durch die Militärs. - Vor allem aber ist die tödliche Gewalt ein weiteres Beispiel für das beständige Versagen der Politik der ägyptischen militärischen Führung."
Die Armee schoss doch auf Ägypter
Um die Ereignisse in ihrer ganzen Tragweite zu verstehen, muss man sich daran erinnern, was jedem Ägypter gegenwärtig ist. Die herrschenden Militärs sind in ihre heutige Position aufgerückt, weil sie sich geweigert hatten, auf die protestierende ägyptische Bevölkerung zu schiessen. Diese Weigerung war auch die Basis, auf der das Vertrauen beruhte, das die Bevölkerung "ihrer Armee" und deren Oberhäuptern bisher entgegenbrachte.
Nun aber hat die Armee "zum ersten Mal" mit ihrem bisherigen Grundsatz gebrochen, nämlich mit ihrer Weigerung, auf die Demonstranten zu schiessen.
Der Umstand, dass es sich in erster Linie um koptische Demonstranten handelte (sie waren allerdings auch von nicht koptischen Aktivisten begleitet, die sich mit den Anliegen der Kopten solidarisierten ) ändert nichts an der Tatsache, dass die Militärs gegen ägyptische Bürger Gewalt anwendeten.
"Wir sind es nicht gewesen", sagen die Generäle
Der Umstand aber, dass die Aktionen der Militärs in der Nacht des 9. Oktobers gegen die Grundlagen verstiessen, auf denen die Legitimität der Übergangsherrschaft der Militärs in Ägypten beruht, erklärt, dass die Sprecher der Junta keinen anderen Ausweg aus ihrer misslichen Lage fanden, als den, alles systematisch abzustreiten.
Die Generäle gaben eine Pressekonferenz, in der sie erklärten, es sei völlig unmöglich, dass die Armee auf die Kopten geschossen habe, und was die Panzerwagen angehe, von denen behauptet werde, sie hätten Demonstranten zermalmt, so hätten ihre Fahrer sich sehr bemüht, "ihnen auszuweichen".
Der Hauptsprecher auf der Konferenz war General Adel Emara. Er zeigte Bilder, aus denen, wie er behauptete, hervorgehe, dass die Panzer den Demonstranten auszuweichen versucht hätten. Die Armee, so erklärte er in stets neuen Wendungen während anderthalb Stunden, "sei doch die Armee des ägyptischen Volkes, nie würde sie sich gegen die Ägypter vergehen." Wenn geschossen worden sei, und wenn es Tote gegeben habe, müsse dies das Werk von "Infiltratoren" sein, die Ägypten zu schaden suchten - inländischen oder ausländischen. Sie wollten die Ägypter gegeneinander aufhetzen.
Geheimgehaltene Obduktionen
Zwar gab es Ärzte des koptischen Spitals, die erklärten, die Toten seien entweder durch Kugeln getötet worden oder durch die gepanzerten Truppentransporter zermalmt. Doch die offizielle Behörde, welche die Obduktionen vornehmen soll, weigerte sich, die Leichen frei zu geben, weil die offiziellen Untersuchungen noch durchgeführt werden müssten. Vorher, so erklärten sie, könne man auch keine gültigen Aussagen über die Todesursache machen.
Was die angeblichen militärischen Märtyrer angeht, von denen die Armeesprecher redeten, so weigerte sich die Armee, ihre Zahl anzugeben, ihre Namen zu nennen, oder ihre Gräber bekannt zu geben. Dies, sagten sie, würde die Moral der Armee schädigen.
Detaillierte Darstellungen der Demonstranten
Den gewundenen Aussagen der Militärsprecher und Generäle die stets aus verallgemeinernden Allgemeinplätzen bestanden, stehen sehr detaillierte und präzise Augenzeugenberichte gegenüber, die den Verlauf der Demonstration und ihrer Niederschlagung durch die Armee klar schildern. Es handelt sich mehreren Fällen um Journalisten, die in der Demonstratioin mitliefen, in anderen um Bewohner der Häuser beim Fernsehgebäude, welche die Vorfälle von ihren Balkonen aus verfolgten.
Gegenpressekonferenz der Demonstranten
Die verschiedenen Leitungsausschüsse der jungen Demonstranten und Revolutionsgruppen gaben am Donnerstag, dem 13. Oktober, eine Pressekonferenz, in der sie Berichte verlasen und Video-Aufnahmen zeigten, die den Angriff der Polizei- und Armeekräfte belegten. Dass es nach den tödlichen Angriffen der Armeepolizei zu einer Strassenschlacht kam, in der zivile und Armeefahrzeuge angezündet wurden, räumten sie ein.
Doch sie versicherten, der Protestzug der Kopten sei zweimal angegriffen worden, zuerst durch Zivile, die von einer Strassenüberführung aus Steine auf sie hinabwarfen, dann von den Militärs und Polizisten, die vor dem Fernsehgebäude bereit standen. Diesen seien in der Nacht auch Zivile mit Messern und Steinen zu Hilfe gekommen.
Zu den auftretenden Zeugen gehörte die Ärztin Magda Adly, die aussagte, sie habe der Obduktion von 8 Leichen beigewohnt. Zwei Personen seien durch Geschosse getroffen worden, die innere Organe durchdrungen hätten mit Schäden an Nieren, Leber, Lungen und Milz. Dies müsse ihrer Ansicht nach durch professionelle Scharfschützen geschehen sein. Die sechs anderen seien durch schwere Gefährte zermalmt worden mit Schäden der Rippen auf der Brust- und Rückenseite, wie sie nicht durch normale Automobile entstehen könnten
"Willkürliche Mordaktion"
Der Aktivist Tamer al-Mihi, der in der Demonstration mitmarschierte, erklärte: "Ich sah keinen der Protestierenden die Militärs angreifen. Ich sah sogar keinen, der sie provozierte. Ich sah Militärs aus einem der gepanzerten Fahrzeuge aussteigen und auf die Protestierenden schiessen. Ich weiss nicht, ob sie scharfe Munition benützten. - Ich war am 28. Januar mit dabei (dies ist das Datum der sogenannten Kamel-Schlacht auf dem Befreiungsplatz. Es war der Höhepunkt der Repressionsversuche Mubaraks). Dort waren wir nicht mit dem gleichen Niveau von Brutalität konfrontiert. Was ich sah, war eine willkürliche Mordaktion."
Der Menschenrechts Advokat Khaled Ali fasste zusammen: "Dies war ein Massaker, in dem die Armee in ihrem Kampf um die Macht all ihre Mittel einsetzte: die Medien, die Strasse, Waffen und Panzerfahrzeuge." Mit dem Begriff "die Strasse" sind die Banden von Gelegenheitssöldnern gemeint, die in Ägypten gegen Bezahlung mobilisiert werden können. Der Menschenrechtler forderte eine unabhängige Kommission, um die Vorfälle zu untersuchen. Er begründete dies mit der Aussage: "Jedes Mal, wenn die Armee und SCAF (die Hohe Armeeführung) ein Verbrechen gegen uns begehen, geht dies zum militärischen Staatsanwalt. Dann hören wir nichts mehr davon."
"Schlimmer als Mubarak"
12 der Parteien und Revolutionsgruppen, welche die Pressekonferenz organisierten, unterschrieben und verteilten eine Erklärung, in der es heisst: "Das Verhalten der Militärs, die sich immer rühmten, dass sie nie eine Kugel gegen die Revolution feuern würden, überstieg jenes der Söldner Mubaraks. Sie vergossen das Blut der Ägypter mit den grausamsten Methoden. Sie warfen sogar Leichen in den Nil, um zu versuchen, ihre Verbrechen zu verbergen."
Beide Darstelllungen, die abstreitende der Generäle und die Anklagende der Kopten, Menschenrechtsadvokaten und Revolutionsaktivisten, fanden ihr Echo in der ägyptischen Presse. Die staatlichen Blätter, immer noch jene mit der grössten Auflage, unterstützt durch das staatliche Fernsehen, stimmten ein in die Erklärungen der Militärs. Die privaten Blätter hingegen gaben auch der Sicht der Kopten und der sie begleitenden Demonstranten Raum.
Der Einfluss des staatlichen Fernsehens
Umfragen auf der Strasse ergaben, dass eine überwiegende Zahl von Passanten immer noch und weiterhin der Armee ihre Hochachtung aussprachen. Sie beziehen ihre Meinung wohl meistens vom Fernsehen. Sie neigten dazu, der Behauptung Glauben zu schenken, "Unruhestifter" hätten das ganze Unglück verursacht.
Eine Minderheit, wohl meist Kopten und politische Aktivisten, klagten die Armee an, ihre Führer versuchten an der Macht zu bleiben, und sie hätten das Massaker verursacht, um unentbehrlich zu bleiben und den Ausnahmezustand, unter dem sie regieren, beizubehalten.
Die Meinungen gehen so radikal auseinander, dass man auf jeder Seite erkennen kann, welchen Medien der Befragte Gehör leiht. Die Freunde der Armee sind von den staatlichen und die armeekritischen von den nicht staatlichen Media beeinflusst.
Klagen gegen das Fernsehen und den Informationsminister
Die Rolle des Fernsehens ist besonders umstritten. Die Offiziere lobten ausdrücklich das "patriotische" staatliche Fernsehen, und der Informationsminister verteidigte ebenfalls "sein" Fernsehen. Doch ihre Kritiker klagen es an, auf die Kopten gehetzt zu haben, zum Beispiel, indem es noch während der Unruhen einen verwundeten Soldaten gezeigt habe, der auf die "koptischen Hunde" schimpfte. Die Fernsehleute hätten auch während den Strassenkämpfen die "rechtschaffenen Ägypter" aufgerufen, der Armee zu Hilfe zu eilen.
Gegen die herrschenden Offiziere kann niemand Anklage erheben. Doch der Informationsminister der Regierung, der die Verantwortung für das staatliche Fernsehen trägt, wurde zur Zielscheibe scharfer Kritik. Ein Rechtsanwalt erhob Klage gegen ihn beim Staatsanwalt, indem er ihn und eine der Sprecherinnen am Fernsehen anschuldigte, sie hätten die Lage durch ihre Hetze gegen die Kopten verschlimmert und seien mit Schuld an dem Massaker.
Ein anderer erklärte, das Fernsehen habe die Armee beleidigt. Dies ist eine normalerweise scharf sanktionierte Straftat im heutigen Ägypten. Denn es sei eine Beleidigung für die Armee, wenn man die zivilen Bürger von Kairo aufrufe, sie müssten die Streitkräfte gegen Angriffe verteidigen.
Viele der Revolutionsgruppen fordern den Rücktritt des Informationsministers. Einige der Sprecherinnen des Fernsehens haben sich von ihrem "lügenhaften" Arbeitgeber distanziert.
Die Meinung der Muslimbrüder-Partei
Die Partei der Muslim Brüder, die "Freiheits- und Gerechtigkeitspartei", welche den politischen Beobachtern als die wahrscheinlich einflussreichste aller Parteien gilt, hat ihre eigene Meinung bekannt gegeben. Sie erklärt, die Vorfälle zeigten, dass das Land sofort eine gewählte Führung benötige. Eine solche sei am raschesten zu erreichen, wenn gleichzeitig mit den bereits auf den 28. November angekündigten Wahlen für eine Verfassungsversammlung auch ein Präsident gewählt werde und die Generäle daraufhin zurückträten.
Die Partei fügte hinzu, die Anliegen der Kopten müssten behandelt werden. Die jetzige Regierung (die von den herrschenden Militärs ernannt ist) habe sich als wenig erfolgreich erwiesen. Sie habe die Gesetze nicht in angemessener Form anzuwenden vermocht. Doch diese Kritik bedeute nicht, dass weiterhin Zivilisten vor die Militärgerichte zu stellen seien und dass der Ausnahmezustand nicht zu beenden sei. Solche Massnahmen seien die falsche Methode, um die Krise zu überwinden.
Der schwache Punkt dieser Pläne liegt darin, dass ohne Verfassung die Kompetenzen des bereits jetzt zu wählenden Präsidenten unbestimmt wären. Würde er oder würde die Verfassungsversammlung das Land reagieren? Oder würden sich beide in irgendeiner Form die Macht teilen?
Man kann jedoch erkennen, dass die Freiheits- und Gerechtigkeitspartei darauf aus ist, sich im Vorfeld der Wahlen von den in ihren Augen offenbar diskreditierten Militärs zu distanzieren und selbst als die führende Verantwortungsträgerin des Landes aufzutreten.