Würde der brasilianische Präsident nur von seinen Landsleuten in Portugal gewählt, so hätte der linke Lula da Silva schon in der Wahlnacht einen Sieg über den ultrarechten Amtsinhaber Jair Bolsonaro feiern können. Im einstigen Mutterland können so viele Brasilianer wählen wie nirgendwo sonst im Ausland.
Gross war vor vier Jahren in Portugal der Schock, als der ultrarechte Jair Bolsonaro die Präsidentenwahl in Brasilien gewann. Für den Schock sorgte nicht nur die Wahl eines Mannes mit bekannten Sympathien für die brutale Militärdiktatur der Jahre 1964–85 und der Verachtung für Frauen. Hinzu kam Verwunderung darüber, dass sogar rund 60 Prozent der Landsleute, die in Portugal an die Urnen gegangen waren, für ihn gestimmt hatten.
Feststimmung in der Warteschlange
Vier Jahre danach haben sich jetzt zunächst die Organisatoren der Abstimmung für die brasilianischen Einwanderer in Portugal etwas verkalkuliert. Etwa 80’000 Frauen und Männer – so viele Brasilianer wie nirgendwo sonst ausserhalb des eigenen Landes – durften in Lissabon, Porto oder Faro ihre Stimme abgeben. In Lissabon hätten die Urnen um 17 Uhr schliessen sollen. Als noch Tausende von Frauen und Männern in der Universitätsstadt nach Wartezeiten von teils zwei oder drei Stunden in der Schlange standen, wurde die Schliessung auf 20 Uhr verschoben. Vor allem Anhänger von Lula trugen ihre Zuversicht zur Schau – mit roter Kleidung, mit Sprechchören, und mitunter erklang «Apesar de você» (Dir zum trotz wird es morgen einen neuen Tag geben), ein berühmtes Protestlied von Chico Buarque aus der Zeit der Militärdiktatur.
In Portugal hat nun der ehemalige linke Präsident der Jahre 2003–11, Luiz Inácio Lula da Silva, klar gewonnen. Ginge es nur nach dem Stimmvolk in Portugal, müsste er gar nicht zur Stichwahl antreten. In Lissabon und Porto erhielt er mit fast 12’000 bzw. rund 8’500 Stimmen klare Mehrheiten in der Grössenordnung von 60 Prozent. Nur in Faro (Algarve) kam er mit fast 900 Stimmen auf nur 49 Prozent und verfehlte knapp die absolute Mehrheit.
Die Gemeinde stark gewachsen
Was hat sich in der Zwischenzeit verändert? Als Lula 2002 erstmals die Wahl gewann, war er in Portugal ein Hoffnungsträger. Seine Erfolge im Kampf gegen die Armut ermutigten so manche Landsleute, die der Armut in Brasilien hatten entkommen wollen, zur Rückkehr in die Heimat. In den 2010er Jahren veränderten sich die Charakteristika der Migration. Viele Menschen wollten nicht mehr nur der Armut entkommen, sondern auch einem Klima der Unsicherheit. Neben Frauen und Männern, die kellnerten oder andere eher einfache Tätigkeiten ausübten, kamen immer mehr hoch qualifizierte Fachkräfte und Angehörige eines neuen Mittelstands, bei denen Bolsonaro wohl einige Sympathie fand.
Vor allem aber ist die brasilianische Gemeinde in den letzten Jahren stark gewachsen. Per Jahresende 2021 zählte die portugiesische Ausländer- und Grenzbehörde SEF knapp 205’000 brasilianische Residenten, weit mehr als doppelt so viel wie Ende 2017, als diese Zahl bei 85’000 lag. Im Alltag ist immer öfter das brasilianische Portugiesisch zu hören. Frauen und Männer aus Brasilien kellnern in Restaurants, sitzen an Supermarktkassen oder am Steuer von Taxis, beantworten Anrufe in Call Centres, und auch technische Fachkräfte, etwa im Bereich der EDV, sind nicht knapp.
Wie viele dieser Menschen unter anderen politischen Voraussetzungen nach Brasilien zurückkehren würden, steht dahin. Ob Brasilien einen anderen Weg einschlägt, wird sich aber erst bei der Stichwahl am 30. Oktober erweisen.