Moralische Ansprüche an die Politik gelten als nicht realistisch. Denn Staaten und politische Akteure, so heisst es, hätten keine Moral, sondern nur Interessen. Realistische Politik habe sich darauf einzustellen.
Aber: Auch moralische Regungen wie Mitleid, Solidarität, Verantwortung oder Empörung sind real – so real jedenfalls, dass sie zu Einflussfaktoren oder gar zu machtvollen Bewegungen werden können. Politik geschieht, auch wenn bei vielem die Fäden im Geheimen gezogen werden, vor der Öffentlichkeit. Images, Symbole, Wahrzeichen und andere Träger kondensierter Emotionen können genauso harte Faktoren sein wie militärische und wirtschaftliche Macht.
Amnesty International hat soeben den Jahresbericht 2014/15 veröffentlicht. Die Organisation prangert die zunehmende Brutalität von Terrorbanden wie IS, Boko Haram und Al Shabab an, weist auf die seit dem Zweiten Weltkrieg grössten Flüchtlingsströme hin, kritisiert das ungenügende Engagement der Staatengemeinschaft zum Schutz der Menschenrechte und skandalisiert insbesondere die Untätigkeit des Uno-Sicherheitsrats im Nahen und Mittleren Osten. Es spricht für das Gewicht und die Respektabilität von Amnesty International, dass über ihren Jahresreport in den Medien regelmässig berichtet wird.
Amnesty und eine Reihe ähnlicher Organisationen mögen einen marginalen Einfluss auf den Lauf der Welt haben. Ihr Wirken stellt aber immerhin sicher, dass Moral in der Politik nicht nur als unkalkulierbarer Reflex in Erscheinung tritt, sondern als verlässliche Stimme der humanen Vernunft.