Diese Geburtstagsgabe passt zu Winfried Kretschmann (der grüne baden-württembergische Ministerpräsident ist vor kurzem siebzig geworden), weil sie nur zum kleineren Teil wie eine der üblichen Festschriften ausgefallen ist. Da gibt es zwar die magistral gewogenen Worte der Kanzlerin und des österreichischen Präsidenten sowie die sinnreichen Girlanden der obligaten Schriftstellerin (in diesem Falle Sibylle Lewitscharoffs). Die übrigen neun Zehntel des Umfangs aber bestehen aus gewichtigen Debattenbeiträgen und Grundsatzüberlegungen zur Demokratie. Das Buch kommt gut ohne den Anlass aus. Es erwähnt ihn lediglich diskret auf der Rückseite des Umschlags.
Volksentscheide oder Parlamentarismus?
Norbert Lammert, ehemaliger Bundestagspräsident, stellt der in Deutschland verstärkt laut werdenden Forderung nach Plebisziten zu Sachfragen sein Plädoyer für den Parlamentarismus entgegen. Seine Argumentation basiert auf der Klärung populärer Missverständnisse in Sachen Demokratie. So sei es eine weit verbreitete Vorstellung, es existiere so etwas wie ein identifizierbarer Volkswille. Lammert hierzu: „’Der‘ Volkswille existiert nur im Plural.“ Die zu entscheidenden Fragen sind erstens komplex und zweitens stets mit vielen weiteren Problemfeldern verknüpft. Entscheidungen bedürfen der informierten Debatte und Willensbildung. Parlamente sind der institutionelle Ort dafür, und dank der demokratischen Legitimation der gewählten Volksvertreter haben so getroffene Entscheide eine zweifelsfreie Geltung.
Ein weiteres Missverständnis ist die Vorstellung, Demokratie sei ein Verfahren der Streitvermeidung. In einer Gesellschaft ist Streit unvermeidlich, und deshalb bedarf es eines Verfahrens, um ihn zivilisiert auszutragen. Dies, so Lammert, führe zu dem gerade in Deutschland notorischen Missverständnis, demokratisch gefällte Entscheidungen seien richtige Entscheidungen. Hierzu sein aufschlussreiches Gedankenexperiment: „Hätte die Mehrheit den Nachweis führen können, dass sie Recht hat, hätten weder Wahl noch Abstimmung stattfinden müssen. Sie finden statt, weil man den Nachweis nicht führen kann, was mit Sicherheit richtig oder falsch ist. Die logische Voraussetzung demokratischer Mehrheitsentscheidungen ist die gemeinsame Einsicht, dass niemand über Wahrheiten verfügt.“
Minderheiten haben Rechte
Entschieden wird mit Mehrheiten. Das führt zu einem letzten, gerade in gut funktionierenden Demokratien gängigen Missverständnis. Es glaubt, der Kern der Demokratie sei das Mehrheitsprinzip. Das sei zwar, so Lammert, nicht ganz falsch, aber noch weniger ganz richtig. „Eine Demokratie erkennt man nicht wirklich daran, dass Mehrheiten entscheiden. Sondern daran, dass Minderheiten Rechte haben, die auch einer Mehrheit nicht zur Disposition stehen.“
An diesen Kriterien misst Lammert die Postulate und die politische Praxis des Pebiszits. Er negiert dessen Berechtigung nicht, solange direkte Volksentscheide nicht die repräsentativen Entscheidungsprozesse zu ersetzen versuchen. Er sieht das Parlament hinsichtlich Professionalität und Kompetenz klar im Vorteil gegenüber der Basisdemokratie. Die Gefahr stark von Emotionen gesteuerter oder von Zufällen des Abstimmungstermins beeinflusster Entscheide sei geringer. Ausserdem sei es im Parlament viel leichter möglich, Fehlentscheide zu korrigieren.
Ein letzter wichtiger Punkt: „Wer übernimmt eigentlich die Verantwortung für Fehlentscheidungen?“ Im Parlament ist stets klar, wer für einen Beschluss geradezustehen hat, bei Volksentscheiden jedoch nicht. Lammerts Fazit: „Deswegen wiederhole ich trotz aller Aufgeschlossenheit gegenüber ergänzenden plebiszitären Verfahren: Die Vorstellung, sie könnten parlamentarische Urteilsbildung ersetzen (...), ist vielleicht populär, aber ganz sicher nicht vernünftig.“
Die Lammert’sche Argumentation kann hier stellvertretend stehen für die in mehreren Beiträgen entfaltete Position, die das Plebiszitäre im politischen Prozess auf wenige Bereiche beschränken und so quasi einhegen will. Eine andere Position ist dem zwar nicht frontal entgegengesetzt, will aber doch das Element des Volksentscheids stärken. Sie argumentiert hauptsächlich mit Erfahrungen im kommunalen Bereich und verweist gelegentlich auch auf das politische System der Schweiz (allerdings mit dem Hinweis auf eine besondere, in langer Praxis geformte politische Kultur des Nachbarlandes).
Totale Transparenz
Quer zu dieser Debatte steht der Beitrag des Medienwissenschafters Bernhard Pörksen zum Problem der, wie er sagt, totalen Transparenz. Ausgehend von Bild- und Textschnippseln, die den Weg in die Öffentlichkeit fanden und Politiker oder Politikerinnen zu Unrecht in ein schlechtes Licht stellten, kommt er zur Feststellung: „Die Medienmacht, die in der analogen Sphäre noch ein klar identifizierbares Zentrum besass, ist plötzlich überall. Sie wandert von der Person und der einzelnen Institution zur Situation. (...) Und sie zeigt sich in Form eines hochnervös reagierenden Wirkungsnetzes, eines weltumspannenden Nervensystems, das man nur leicht reizen muss, um kaum noch eingrenzbare Erregungsschübe zu erzeugen (...).“
In der Summe ergebe sich für die Politik eine „totale Sichtbarkeit“, welche durch ihre Negativfilterung die ohnehin grassierende Politikverachtung laufend bestärke. Für das politische Personal entstehe „eine Art Big-Brother- und Aquarium-Gefühl“, dauernd beobachtet und kurz darauf attackiert zu werden. Als Folge davon entstehe ein Zwang, sich permanent möglichst unangreifbar zu machen. Die Folge: „Für Zyniker ergibt sich daraus der allgemeine Ratschlag: Simuliere Authentizität, inszeniere Kantigkeit, rhetorische Schlagkraft! Aber bleibe doch im Letzten diffus, um die potenzielle Abweichung vom selbst proklamierten Ideal zu minimieren!“
Unguter Anpassungsdruck
Pörksen kommt zum Schluss, es seien letztlich nicht die Politiker, sondern „die Medienmacher und das Publikum selbst, die in dieser Situation ihre Massstäbe zur Beurteilung des politischen Personals überdenken müssen. Sie müssen lernen, mit Normalsterblichen zu leben, die Fehler machen, eitel sind und manchmal erschöpft, übellaunig und unbeherrscht und deren Frisur, Vorleben und Gesamtpersönlichkeit einem nicht notwendig gefallen.“
Besonders aber plädiert Pörksen dafür, das übermässig und in falscher Art propagierte Ideal der Transparenz zu relativieren. Transparenz sei nötig, um echte Skandale aufzuklären sowie Rechenschaft einzufordern und nötigenfalls zu erzwingen. Politik brauche heute aber auch „Schutzzonen der Intransparenz“, die als Reservate der unbeobachteten Reflexion und des Austauschs noch unfertiger Ideen funktionieren. Fehlt dieses abgeschirmte Diskursrevier, so drohen Anpassung und Konformismus in der Politik vollends die Herrschaft zu übernehmen. „Den Typus des Angstpolitikers, der nur vorsichtig abtastet, was gerade Mode ist, um dann auf der momentan aktuellen Meinungswelle zu surfen, kann niemand wollen.“
Ralf Fücks und Thomas Schmid: Gegenverkehr. Demokratische Öffentlichkeit neu denken, Klöpfer & Meyer, Tübingen 2018, 235 S.