Das Putin-Regime scheint die dunklen Seiten des vor zwanzig Jahren untergegangenen Sowjetimperiums in wachsendem Masse als Peinlichkeit und Schande auch für die Reputation des heutigen Russland zu empfinden. Deshalb bemühen sich Moskauer Propagandisten angestrengter denn je, solche historischen Belastungen zu relativieren, zu übertünchen oder überhaupt zu bestreiten. Präsident Putin persönlich hat sich in jüngster Zeit besonders aktiv gegen angebliche Verleumder und «Geschichtsfälscher» im Westen engagiert.
Stalins Rechtfertigung
In mehrere Reden befasste er sich mit den Entwicklungen, die zum Ausbruch des Zweiten Weltkriegs führten und namentlich mit den Hintergründen des deutsch-sowjetischen Nichtangriffsvertrages vom 23. August 1939, der gemeinhin als Hitler-Stalin-Pakt bezeichnet wird. Dieses letztere Thema hat im Zusammenhang mit dem 80. Jahrestag jenes «Teufelpaktes» begreiflicherweise in Polen erneut heftige Debatten aufflammen lassen. Manche dieser Beiträge werden im Kreml-Umfeld als antirussisch kritisiert.
Schon zu Stalins Zeiten ist der deutsch-sowjetische Nichtangriffspakt von 1939 als eine im Grunde schlaue und weitblickende Entscheidung des roten Diktators gerechtfertigt worden, die der Sowjetunion eine wichtige Atempause zur Stärkung ihrer Verteidigung bis zum 1941 erfolgten Angriffskrieg Hitlers verschafft habe.
Putins Spekulation über westliche Archive
Diese Rechtfertigung fiel dann allerdings in sich zusammen, als nach dem Krieg die geheimen Zusatzprotokolle zu dem Vertrag bekannt wurden, in denen Hitler und Stalin in aller Form die gemeinsame Aufteilung Polens, des Baltikums und anderer Teile Osteuropas vereinbart hatten. Noch im gleichen Jahr 1939 wurde die Eliminierung Polens von den beiden Diktatoren kaltblütig in die Tat umgesetzt.
Ungeachtet dieser Faktenlage, die während der Sowjetherrschaft stets geleugnet, zu Jelzins und Gorbatschows Zeiten aber unbeschönigt anerkannt wurde, insinuieren der heutige Kremlherrscher und seine Propagandisten allerhand windige Ausreden, um auch dem Opfer Polen sowie den Westmächten wenigstens einen Teil der Verantwortung für den infamen Hitler-Stalin-Pakt und dessen Geheimprotokolle zuzuschieben.
So argumentierte Putin in einer seiner Reden zu dem Thema, man könne ja nicht wissen, ob der Westen mit Hitler nicht ebenso Geheimabsprachen getroffen habe, denn die westlichen Archive blieben in dieser Beziehung verschlossen. Welche Archive in welchen Ländern da gemeint sein könnten, bleibt offenbar Putins Geheimnis.
Welches Geheimprotokoll meint der Botschafter?
Noch einfacher macht es sich Putins Botschafter in Bern, Sergei Garmonin. In einem Leserbrief an den «Tages-Anzeiger» vom 7. Januar behauptet er kurzerhand, der eigentliche Grund für Stalins Nichtangriffspakt mit Hitler sei ein Geheimprotokoll zum deutsch-polnischen Nichtangriffsvertrag von 1934 gewesen. Darin habe sich die polnische Seite «laut damaligen Politikern und Historikern» zur Unterstützung «von Hitlers militärischer Aggression» verpflichtet. Der Pakt mit Hitler sei deshalb für Stalin eine «Notmassnahme» gewesen.
In seinem Leserbrief erwähnt der russische Botschafter das gegen Polen gerichtete deutsch-sowjetische Geheimprotokoll von 1939 mit keinem Wort. Dagegen phantasiert er von einem gegen die Sowjetunion gerichteten Geheimabkommen im deutsch-polnischen Nichtangriffspakt von 1934 und bezieht sich dabei kryptisch auf «damalige Politiker und Historiker». Es mag sein, dass in den Vorkriegsjahren über ein solches Abkommen gemunkelt wurde – vor allem auf sowjetischer Seite zur Rechtfertigung des «Teufelspaktes» mit dem Nazi-Regime.
Doch ein solches deutsch-polnisches Geheimabkommen ist bis heute nirgends entdeckt worden. Würde es existieren, so kann man mit Sicherheit davon ausgehen, dass die Siegermächte im besetzen Deutschland ein entsprechendes Dokument aufgestöbert und publik gemacht hätten.
Anders als das Putin-Regime und manche seiner Trolle im Westen oft suggerieren, läuft Kritik an bestimmten Aspekten und Vorkommnissen der russisch-sowjetischen Geschichte keineswegs auf eine gezielte Dämonisierung Russlands oder eine Herabsetzung seiner gewaltigen Leistungen und Opfer bei der Niederringung Hitler-Deutschlands hinaus. Aber der russische Botschafter in Bern könnte seinem Land einen besseren Dienst leisten, wenn er bei seinen publizistischen Einsätzen konsequent mit belegbaren Fakten statt mit Propaganda-Klitterungen argumentieren würde.