Am letzten Samstag kam es in Warschaus Innenstadt zu einem medienwirksamen Aufeinandertreffen von Anhängern des rechtskonservativen Regimes und entschlossenen Regimegegnern. Anlass war die jeden Monat stattfindende Gedenkfeier für die Opfer des Smolensker Flugzeugabsturzes von 2010, ein demonstratives Ritual des herrschenden PiS (Recht und Gerechtigkeit).
Diese Feiern gelten vor allem dem damals umgekommenen Staatspräsidenten Lech Kaczynksi, dem Zwillingsbruder von Jaroslaw Kaczynski, dem starken Mann Polens. Sie beginnen jeweils mit einem Gottesdienst in der Hauptkirche der Altstadt und einem anschliessenden kurzen Marsch mit Transparenten und Polenfahnen vor den Präsidentenpalast.
Kleine Störung durch Opposition
Dieses Mal wurde der Marsch aber durch eine Sitzblockade aufgehalten, organisiert durch die „Bürger der Republik“, eine kleine, relativ militante Oppositionsgruppierung. Die Polizei räumte die Blockade, mehrere Dutzend Personen wurden weggetragen und bis zum Ende der Veranstaltung in einer Seitenstrasse festgehalten. Darunter befanden sich auch einige prominente Oppositionelle.
Wie üblich endete der Anlass mit einer Rede Kaczynskis vor seinen Anhängern. Er griff nicht nur die Demonstranten scharf an. Er zog auch mit allen Registern über die Vorgängerregierung der liberalkonservativen PO (Bürgerverständigung) her, welche vom PiS-Lager für den Absturz, für das behauptete „Attentat“, verantwortlich gemacht wird. Er bezichtigte sie dabei der „Barbarei“. Sie habe nicht einmal dafür gesorgt, dass die Leichenteile wirklich separiert und in die entsprechenden Särge überführt worden seien.
PiS-treue Medien lenken von Flops ab
„Das ist schon ein ziemlich starkes Stück, wenn da wirklich so geschlampt worden ist. Für uns Katholiken ist das relativ wichtig. Das wird die PiS ausnützen“, meint Zosia Kucharska, eine 70jährige Rentnerin in einem Dorf in Südostpolen. Die Verwechslungen und Vermischungen von Leichenteilen sind durch neue Exhumierungen bekannt geworden.
Die Affäre war vor rund zwei Wochen in den Medien sehr präsent. Vor allem die rechten PiS-treuen Medien bauschten die Sache auf. Allein die Nachrichten des von der PiS kontrollierten staatlichen TV Senders widmete dem Thema geschlagene zwölf Minuten. Auch Boulevardzeitungen brachten seitenweise Berichte mit grossen Fotos und Aussagen von schockierten Witwen.
Dass die PiS sich so auf das Thema einschoss, ist nicht weiter erstaunlich. Damit konnte sie nicht nur Emotionen bewirtschaften, sondern auch von eigenen Misserfolgen ablenken. Trotz seit über einem Jahr laufenden breit angelegten Untersuchungen ist es bisher nicht gelungen, irgendwelche Beweise für die Attentatsbehauptung vorzulegen.
Das PiS-Lager versucht auch sonst mit geschickt inszenierten Aufmachern, Fehler und Affären der Vorgängerregierung zu instrumentalisieren und damit von eigenen Affären und Misserfolgen abzulenken. So untersucht eine parlamentarische Untersuchungskommission die „Amber Gold“ Affäre, bei der durch eine Art Pyramidensystem viele Kleinanleger geschädigt worden waren. Eine neue spezielle Kommission beginnt, die durch Korruptionsskandale in Verruf geratene Reprivatisierung von Grundstücken in Warschau aufzuarbeiten.
Erstmals positive Umfragewerte für PiS
„Die PiS macht es nicht schlecht. Kaczynski will wirklich was erreichen für Polen und die gewöhnlichen Leute.“ So begründet ein älterer Taxifahrer seine Sympathien für das PiS-Regime. Ja, es gäbe natürlich schon Affären, Klüngeleien und Korruption. Aber das sei vorher ja noch einiges schlimmer gewesen. Die Meinung des politisch durchschnittlich interessierten Mannes dürfte von vielen geteilt werden.
Im Mai jedenfalls gab in einer Umfrage mit 51 Prozent zum ersten Mal eine Mehrheit an, sie würden die Ergebnisse der Regierung von Beata Szydlo positiv bewerten. 38 Prozent beurteilten sie negativ. Als Anhänger der Regierung bezeichneten sich 39 Prozent, als Gegner 34 Prozent. Besonders viele Anhänger wies die Regierung unter rechts Gesinnten und religiös Aktiven auf.
Wenig schlagkräftige Opposition
Im März und April – nach dem Eklat um die Wiederwahl von Donald Tusk zum EU Ratspräsidenten – hatte noch die Opposition Aufwind verspürt, während das PiS-Lager geschwächelt hatte. Unterdessen hat das Pendel wieder auf die andere Seite ausgeschlagen. Das ist kein neues Phänomen. Seit dem Machtwechsel im Herbst 2015 gab es schon mehrmals solche Pendelbewegungen.
Dass die PiS sich wieder auffangen konnte, hängt auch mit einem partiellen Taktikwechsel zusammen. Einerseits gab sie sich bei besonders umstrittenen Fragen wie der Reform des Gerichtswesens etwas moderater. Sie versuchte beispielsweise den starken Widerstand der Richter und Anwälte zu unterlaufen, indem sie kleine Zugeständnisse anbot und die Reform nicht wie üblich einfach durchpeitschte. Anderseits haute sie um so entschlossener auf die Pauke, wenn die Sache eindeutigen Gewinn versprach. Paradebeispiel hierfür ist die Weigerung, Flüchtlinge aufzunehmen, bei der sie sich gegenüber Brüssel knallhart zeigte.
Ein wichtiger Faktor ist auch der Zustand der Opposition. „Kaczynski könnte es schon nochmals schaffen. Die Opposition ist schwach. Es fehlt vor allem an einer schlagkräftigen Linken.“ Diese Meinung vertritt eine etwa dreissigjährige Frau im spontanen politischen Gespräch einer Gruppe von PiS-kritischen Frauen und Männern in einem Naherholungsgebiet von Krakau. Einer der Männer meint, viele Polen seien wegen der religiösen Indoktrination noch irgendwie im „Mittelalter“ stecken geblieben. Ein anderer beklagt sich, die Hälfte sei einfach blöd oder sei, vielleicht aus Zeitmangel, nicht informiert.
Fakt ist, dass die Linke seit den letzten Wahlen nicht einmal mehr im Parlament vertreten und nach wie vor ein politisches Leichtgewicht ist. Die sozialdemokratisch-liberale SLD (Bündnis der Demokratischen Linken) ist überaltert und dümpelt in den Meinungsumfragen nach wie vor um die Fünfprozenthürde herum. Dabei hatte die SLD noch 2001 mit über 41 Prozent den grössten Wahlsieg nach der Wende eingefahren. Die neue klar links positionierte Partei Razem („Zusammen“) hat zwar aktive und meist junge Mitglieder, bleibt aber in den Umfragen immer klar unter der Fünfprozenthürde.
Liberalkonservative PO fällt zurück
Die liberalkonservative PO, die grösste Oppositionspartei, die in einer Umfrage im April sogar ganz knapp vor der PiS gelegen hatte, ist Anfang Juni wieder deutlich hinter die Regierungspartei zurückgefallen. Eine kürzliche Umfrage bestätigte den Trend. Die PiS lag mit 33 Prozent klar vor der PO mit 25 Prozent.
Die PO hat offensichtlich das Momentum aus der Tusk-Affäre nicht nutzen können. Ihr Profil ist zu wenig klar, Altlasten aus der vorangegangenen Regierungszeit stellen weiterhin ein Handicap dar. Die Nowoczesna (die Moderne), die zweite wichtige Oppositionspartei, hat hingegen mit einem neuen wirtschaftlich wie weltanschaulich liberalen Programm wieder etwas zugelegt. Sie lag mit gut 8 Prozent knapp vor der rechtspopulistischen Bewegung Kukiz’ 15 des Rocksängers Pawel Kukiz, gefolgt von der SLD mit gut 6 Prozent. Alle andern Parteien erreichten hingegen die Fünfprozenthürde nicht. Selbst die traditionsreiche PSL (Polnische Bauernpartei) blieb knapp darunter.
Wirtschaft im Aufwind
Die PiS könnte eigentlich noch populärer sein, wenn man nur die Wirtschaftslage betrachtet. Im ersten Quartal 2017 wuchs die Wirtschaft um rund 4 Prozent. Die Arbeitslosigkeit war im April mit 7,7 Prozent so tief wie seit 26 Jahren nicht mehr, der Durchschnittslohn im Unternehmenssektor gegenüber dem Vorjahr gut 4 Prozent höher. Auch die Investitionen, die letztes Jahr zurückgegangen waren, zogen wieder an.
Die Konsumausgaben sind deutlich gestiegen, wozu die stark erhöhten staatlichen Sozialausgaben beitrugen. Von dem populären Kinderzulagenprogramm 500 plus profitierten 2,8 Millionen Familien, was auch die Kinderarmutsrate senkte. Dieses Jahr werden für das Programm 23 Milliarden Zloty ausgegeben, was erheblich zum geplanten Budgetdefizit von 59 Milliarden beiträgt.
Damit das Budgetdefizit von 2,9 Prozent des BIP eingehalten werden kann, werden auch die Steuern und Abgaben intensiver kontrolliert. Expertenschätzungen gehen von gegen 40 bis 50 Milliarden aus, die dem Staat allein durch Steuerhinterziehung bei der Mehrwertsteuer entgehen.
Starke mittelständische Betriebe
„Unser Betrieb bezahlt die Abgaben und Steuern korrekt, aber es gibt auch in unserer Region immer mehr Betriebe, die durch verschärfte Kontrollen erwischt wurden“, meint Tadeusz Stanowski, ein Kleinunternehmer im südostpolnischen Provinzstädtchens Jaroslaw. Er hat vor 20 Jahren mit seinem Schwager die Firma Ekotech gegründet. Sie nutzten clever eine Marktlücke aus, indem sie günstige Abfallbehälter produzierten. Vor allem für die getrennte Abfallbewirtschaftung war eine zunehmende Nachfrage der selbstverwalteten Gemeinden zu verzeichnen.
Der Betrieb wurde ausgebaut, die Produktion und die Produktepalette jeweils den Marktverhältnissen angepasst. Heute werden zusätzlich Kunststoffwannen und vor allem spezielle Verpackungsmaterialien hergestellt. Dazu wurden teure neue Maschinen angeschafft. Bei einer Betriebsbesichtigung präsentieren sich die kleinen Werkhallen einfach, aber zweckmässig gebaut. Momentan arbeiten 35 Personen in der Firma, viele schon längere Zeit. Die Leute arbeiten relativ selbständig. Wenn es ihm hier nicht passen würde, wäre er nicht hier, meint ein Arbeiter lakonisch auf die Frage, wie es sich denn hier so arbeite.
Hoch anpassungsfähige Klein- und Mittelbetriebe wie die Ekotech sind ein wichtiger Eckpfeiler der erfolgreichen wirtschaftlichen Entwicklung Polens seit der Wende. Das geflügelte Wort „Polak potrafi“ – frei übersetzt: ein Pole findet immer einen Weg – trifft besonders auf die polnische Wirtschaft zu.
Unsicherer Erfolg der Steueroffensive
Die Polen haben in ihrer durch Fremdherrschaft und Kriegswirren geprägten jüngeren Geschichte gelernt sich durchzuschlagen, sich auf wechselnde Verhältnisse einzustellen. Dass sie dabei nicht selten den eigenen Vorteil im Auge haben und den Staat und seine Gesetze nicht allzu ernst nehmen, ist allerdings die Kehrseite der Medaille. Man darf gespannt sein, wie weit die Steueroffensive der Regierung Erfolg haben wird. Bürokratische Willkür könnte dabei allerdings auch kontraproduktive Effekte hervorrufen.
Bis jetzt hat das staatsgläubige PiS-Regime die Wirtschaft noch relativ wenig mit neuen Steuern und Regulierungen eingeschränkt. Teilweise wurden diese sogar unter Lobbydruck gelockert, etwa beim Fällen von Bäumen auf Privatgrundstücken oder sogar vereinzelt in Naturschutzgebieten wie dem berühmten Urwald von Bialowieza, mit entsprechend negativen Folgen.
Pfründenwirtschaft der PiS
Allerdings wurden die meisten Staatsbetriebe durch PiS-loyale Manager und Aufsichtsräte unter Kontrolle gebracht, die oft über geringe oder gar keine fachlichen Qualifikationen verfügen. Das ist mittel- und längerfristig ein Risiko und wird auch von der Bevölkerung schlecht aufgenommen.
Vor gut einem Jahr hatte die Regierung auch einen sehr ambitionierten „Plan für eine verantwortungsvolle Entwicklung“ verabschiedet. Zentrale Zielvorgaben sind Re-Industrialisierung, Förderung innovativer Firmen und einheimischen Kapitals sowie mehr Exporte. Allerdings ist bisher noch wenig passiert.
Wie geht es weiter? Diese Frage beschäftigt viele in Polen und taucht in den Diskussionen immer wieder auf. Die Meinungen gehen nicht nur in der Bevölkerung, sondern auch unter Experten auseinander.
Gründe für Optimismus
Bezüglich der wirtschaftlichen Entwicklung herrscht Optimismus vor, mindestens was die Entwicklung in den nächsten ein bis zwei Jahren betrifft. Obwohl hier viele Faktoren eine Rolle spielen, dürfte eine positive Einschätzung durchaus realistisch sein. Die PiS-Regierung wird sich wohl weiterhin eher zurückhalten und vor allem wird sich die polnische Wirtschaft auch in Zukunft als robust und anpassungsfähig erweisen.
Obwohl eine Mehrheit von 56 Prozent im Mai angab, in ihrer Familie lebe es sich gut, sind allerdings wichtige Probleme hängig, wie zu wenige bzw. zu teure Wohnungen, ein überfordertes ineffizientes Gesundheitswesen, relativ viele schlecht bezahlte Jobs.
Politische Stolpersteine
Schwieriger ist die Einschätzung der politischen Entwicklung. Hier dürften die Pendelbewegungen vorerst weitergehen: einmal etwas mehr Aufwind für das PiS-Lager, dann wieder für die Opposition. Stolpersteine für das PiS-Lager gibt es einige. Im Herbst läuft die mehr schlecht als recht vorbereitete Bildungsreform an. Unbeliebte und wenig kompetente Minister wie der Verteidigungs- und der Umweltminister sollten eigentlich ausgewechselt werden. Heikle ideologisch- weltanschauliche Themen wie die Abtreibungsfrage werden wieder auf der politischen Agenda auftauchen.
Aber auch für die Opposition wird es nicht einfach. Weitgehende Machtlosigkeit, programmatische Schwächen und Rivalitäten werden ihr weiterhin zu schaffen machen. Und bis zu den nächsten Wahlen ist es noch weit. Erst im Herbst 2018 sind Gemeindewahlen, ein Jahr später Parlamentswahlen. Für Prognosen ist es eindeutig zu früh.