Die Genferin Marie Velardi (*1977) zeigt drei miteinander verbundene Werkzyklen mit naturgeschichtlichen Themen. Ihre Kunst gründet in eingehenden Reflexionen und Recherchen und findet zu minimalistischen und konzisen Darstellungsformen.
Abstrahiert man aus Landkarten alles ausser den Flusssystemen, so bekommt man Grafiken von unverwechselbarer Struktur. In all ihrer Verschiedenheit demonstrieren die so entstandenen Gebilde die unabänderliche Logik einer vom Wasser bestimmten Topographie: Wasser will fliessen, bis es auf der Nullhöhe des Meeres anlangt, es bahnt sich wo immer möglich seine Wege, sammelt sich in stets grösseren Flüssen, spült Täler aus, gräbt Schluchten, bildet Seen, formt Landschaften.
Die Genferin Marie Velardi erzählt mit streng reduzierten Mitteln diese Naturgeschichte des Wassers. Als einzige Artefakte hängen in einem Saal des Museums fünf quadratische Banner, im Bogen angeordnet. Auf Orange, Rot, Blau, Violett und Kupferbraun sind weiss die Gewässer von fünf europäischen Flusssystemen aufgedruckt. «Liens d’eaux» (Wasserverbindungen) nennt sich die Installation, welche die Flusseinzugsgebiete von Rhône, Rhein, Po, Etsch und Donau zeigt. Die Mündungen liegen stets an einer Kante des Banners, und die Masstäblichkeit passt sich jeweils ans gegebene Format an.
Baum und Netz
Mit diesen selbstgesetzten Regeln erzielt die Künstlerin eine Serialität, welche die Aufmerksamkeit auf die gemeinsame Logik der graphischen Gebilde lenkt: Indem die Gewässer dem Gefälle des Terrains folgen, folgen ab deren Ursprung immer Zusammenflüsse und nie Verzweigungen. Die Flusssysteme weisen eine Baumstruktur auf, wie sie auch in gedanklichen und gesellschaftlichen Systemen vielfach vorkommt. Hierarchische Ordnungen, Begriffssysteme mit Ober- und Unterkategorien, Taxonomien der Naturbeschreibung: Sie alle beruhen auf der gleichen Logik eines das ganze System prägenden «Gefälles». Dies in Unterschied zum anderen wichtigen Ordnungsprinzip, der Netzstruktur. In Netzen herrscht kein «Gefälle»; statt nur Zusammenflüssen gibt es auch Verzweigungen, und Verbindungen zwischen den Teilen funktionieren stets in beiden Richtungen.
Beide Ordnungsprinzipien existieren in den Sphären der unbelebten und belebten Natur, aber genauso auch in Gesellschaft, Kultur, Sprache, Denken, Wissenschaft. Baumstrukturen schaffen einfache hierarchische Ordnungen. In Netzstrukturen hingegen sind komplexe, theoretisch unbegrenzt variable Beziehungsmuster möglich.
Mit einer Serie von Aquarellen hat Marie Velardi versucht, geographische Wassersituationen darzustellen, in denen sich die Ökologie des Küstenraums in komplexen Netzstrukturen manifestiert. Im Rahmen ihres künstlerischen Forschungsprojekts «Terre-Mer» befasste sie sich 2014–2019 mit einigen der meistgefährdeten Küstenregionen der Welt. Die Zwischenbereiche von Wasser und Land befinden sich dort in stetigem Wandel, der einerseits durch natürliche Dynamiken sowie durch singuläre Naturereignisse und Klimawandel, andererseits durch menschliches Bauen und Wirtschaften beeinflusst wird. In Mischtechnik von Bleistiftzeichnung und blauer Wasserfarbe gibt Marie Velardi einige von besonderer Veränderungsdynamik betroffene Regionen als Küstenkarten wieder, so in Serien über Mumbai, Bangkok, Narbonne. Die nicht ganz leicht zu lesenden Bilder werden kontextualisiert mit längeren Wandinschriften, die Velardis Intentionen verdeutlichen. Zudem liegt ein Buch aus, welches das gesamte Projekt «Ter-Mer» dokumentiert.
Naturgeschichte der Zukunft
Mit einer 28-teiligen Serie kleiner Aquarelle von 2019, im dritten Velardi-Raum als eindrucksvolle lange Reihe gehängt, bewegt sich die Künstlerin scheinbar von ihrer Wasser-Meditation weg. Die Bildchen zeigen den Mond in seinen Phasen. Mit dem Werktitel «Maria Lunae» ist die Verbindung zum Hauptthema signalisiert, denn die maria (mit Betonung auf der ersten Silbe) bezeichnen die Tiefebenen des Mondes, die von blossem Auge als dunkle Flächen zu sehen und, da einst für Meere gehalten, so bezeichnet sind.
Beiläufig erzählen diese Namen eine Episode aus der Geschichte des menschlichen Wissens. Gemessen an astronomischen Zeitdimensionen ist es allerdings nur einen Augenblick her, seit man unter Himmelsbeobachtern sicher war, auf dem Mond Meere zu sehen. Beim Blick in den nächtlichen Himmel verschieben sich die Massstäbe von Raum und Zeit und es überfällt einen die Ahnung, wie klein sich die menschliche Historie ausnimmt, wenn man sie als Teil der irdischen und erst recht der kosmischen Naturgeschichte betrachtet. Und kommt die Menschengeschichte dereinst an ihr Ende, so wird die Naturgeschichte trotzdem weitergehen, bis vielleicht ein Schwarzes Loch dem Spuk ein Ende macht.
Von diesem Gegenstück zum Big Bang erzählt Marie Velardis Kunst zwar nicht, aber sie verschiebt immerhin die Zeitmassstäbe der Betrachtung über die Vergangenheit und auch über die Zukunft der Menschengeschichte hinaus. Was Marie Velardi tut, ist eine Art Meditation der Natur ohne romantische Illuminationen und esoterische Auswüchse. Sie ist eine Forscherin, die mit künstlerischen Mitteln arbeitet. Indem diese Mittel der Darstellung im Vergleich zu deren Gegenstand sich am Rand der Belanglosigkeit bewegen, ist untergründig das Verhältnis der Betrachterin zu den Raum- und Zeitdimensionen der irdischen und kosmischen Natur mit thematisiert.
Marie Velardi pflegt in diesem Sinn eine philosophische, umfassend reflektierte Auseinandersetzung mit der Natur. Sie folgt damit den Spuren eines Künstlertums, das in der Antike, in der Renaissance und in der Aufklärung seine grossen Zeiten hatte.
Kunstmuseum Solothurn: Marie Velardi, kuratiert von Marianne Burki, bis 6. Oktober
Gleichzeitig zu sehen:
Amanda Tröndle-Engel & Oskar Tröndle. Das etwas in Vergessenheit geratene Solothurner Künstlerpaar erweist sich als Arbeitsgemeinschaft zweier starker und eigenständiger Partner. Zu entdecken ist eine Hinterlassenschaft aus der Zeit bis Mitte des 20. Jahrhunderts mit vielseitigen Arbeiten von exquisiter Qualität.