Wenn scheinbar einfache Fragen plötzlich wie verhext scheinen, so liegt das oft an der Sprache. Sie ist es, die verhexen kann, indem sie Gewohntes auf Unbekanntes überträgt. Das geschieht nicht nur im Alltag, sondern beispielsweise auch in der Neurowissenschaft.
Philosophieren bedeutet unter anderem, durch triviale Fragen das Gleichgewicht des Gewohnten zu stören. Deshalb kommen uns philosophische Probleme oft auch «gestört» vor. Doch diese «Gestörtheit» ist eine Tugend und Kunst – ausserhalb der psychiatrischen Klinik, wohlgemerkt.
Ein Beispiel für eine triviale Frage, an der philosophisches Denken sich die Zähne ausbeisst: Eine Person verzieht ihr Gesicht, schreit «Au, das tut mir weh!» Wie kann ich nun wissen, dass sie Schmerzen hat? Meine Evidenz ist ja bloss ein Verhalten, das ich zwar schon oft bei anderen Personen, nicht zuletzt auch bei mir beobachtet habe; aber strenggenommen weiss ich nur von mir selber, wie es ist, Schmerzen zu haben.
Der Schluss, dass das, was ich bei mir feststelle, auch bei dir der Fall ist, erscheint plötzlich als wilde und unbegründete Spekulation. Ich müsste ja wissen, was in dir vor sich geht. Ich müsste du sein. Meine Schmerzen und deine Schmerzen trennt eine offenbar unüberbrückbare Kluft zwischen innen und aussen.
Wenn wir davon ausgehen, dass unser Wissen über das Innenleben anderer sich auf ihr Aussenleben beschränkt – dazu gehört auch die Neurophysiologie –, dann wäre es unmöglich, das Innenleben anderer zu erreichen. Und dennoch setzen wir andauernd voraus, genau das zu können. Schreit eine Person vor Schmerzen, versuche ich ihr zu helfen und ich grüble nicht darüber, wie und woher ich denn wisse, dass sie Schmerzen hat. Ich wäre tatsächlich gestört.
Ein Problem aus einer Trivialität zaubern
Was ich hier kurz vorgeführt habe, ist ein typisch philosophisches Manöver: aus einer Trivialität ein Problem hervorzaubern wie das sprichwörtliche Kaninchen aus dem Hut. Das Manöver erinnert tatsächlich an einen Trick. Der Zauberkünstler führt den Zuschauer an einen Punkt, wo dieser perplex ist. «Das ist doch nicht möglich!» – und trotzdem geschieht es. Der geschickte Taschenspieler benutzt die List des Bannens, etwa durch Fingerfertigkeit, Ablenken, Verblüffen, Verwirren. Und er baut auf die Psychologie des Zuschauers – zum Beispiel auf dessen Aufmerksamkeitsfokussierung oder dessen Bereitschaft zur Illusion.
Ein Kunststück ist kein übernatürliches Ereignis. Der Trickkünstler, der etwa Kugeln durch Becherwände wandern lässt, demonstriert nicht einen spektakulären neuen physikalischen Effekt, sondern erzeugt den Schein des Hindurchwanderns. Er will den Zuschauer eben «verzaubern». Das ist ein Zustand, in dem man keine Erklärung für ein Ereignis hat und dennoch überzeugt ist, dass es eine geben muss.
Die Sprache «verhext»
Ludwig Wittgenstein hat viel über diesen «verzaubernden» Charakter nachgedacht. Philosophische Probleme üben für ihn einen «magischen» Einfluss aus. Und zwar aufgrund der Gauklerin Sprache. «Die Philosophie ist ein Kampf gegen die Verhexung unseres Verstandes durch die Mittel der Sprache.» Und diese Verhexung erfahren wir genau so wie beim Zauberkunststück: als die Magie des Paradoxen.
Wittgenstein: «’Es ist doch nicht so!’ – sagen wir. ‘Aber es muss doch so sein!’». Oder: «Wir erliegen dem Irrtum, das philosophische Problem sei schwierig, dabei ist es hoffnungslos (…) Wir stehen unter einem Bann.» Es ist der Bann der Sprache: «Denn die philosophischen Probleme entstehen, wenn die Sprache feiert.»
Das gilt auch für das Problem des Innenlebens anderer Menschen. «Wie kommt es zum philosophischen Problem der seelischen Vorgänge und Zustände?», fragt Wittgenstein. «Der erste Schritt ist der ganz unauffällige. Wir reden von Vorgängen und Zuständen und lassen ihre Natur unentschieden. Wir werden vielleicht einmal mehr über sie wissen – meinen wir. Aber eben dadurch haben wir uns auf eine bestimmte Betrachtungsweise festgelegt. Denn wir haben einen bestimmten Begriff davon, was es heisst: einen Vorgang näher kennen zu lernen. (Der entscheidende Schritt im Taschenspielerkunststück ist getan, und gerade er erschien uns unschuldig).»
Die Gauklerin neurowissenschaftliche Sprache
So hat auch die Neurowissenschaft einen ganz bestimmten Begriff davon, was es heisst, einen Vorgang wie Schmerz näher zu kennen. Sie führt das Schmerzempfinden auf seine neuronale Basis zurück. Man achte darauf, wie in diesem «unschuldigen» Satz bereits eine Festlegung der Betrachtungsweise von seelischen Vorgängen und Zuständen erfolgt, nämlich «von aussen», vom beobachtbaren Verhalten und von der Neurophysiologie her.
Selbstverständlich haben unsere Schmerzen und unsere mentalen Aktivitäten eine neurophysiologische Grundlage. Sie lassen sich in diesem Sinn «von aussen» naturwissenschaftlich-kausal verstehen. Und dieses Verständnis macht grosse Fortschritte.
Aber hier beschäftigt uns etwas anderes. Die neurophysiologische Redeweise gaukelt uns nämlich vor, sie hätte das Verhältnis von «aussen» und «innen», von Gehirn und Geist, geklärt. Dabei stiftet sie nur Verwirrung, indem sie Wörter so verwendet, als wären sie bereits verstanden. Wie etwa auch in der Frage «Warum fällt die Erde nicht?». Man kennt solche Fragen aus Kindermund, weil der kindliche Wortgebrauch sich noch nicht verfestigt hat. Und die Fragen muten uns nicht selten sehr philosophisch an. Sie stören den gewohnten Gebrauch, bringen ihn durcheinander. Alle Körper auf der Erde fallen, die Erde ist auch ein Körper, aber kein solcher, auf den das Wort «fallen» im gewohnten Sinn angewendet werden kann. Man muss also «fallen» neu konzipieren.
Wo ist der Geist – drinnen oder draussen?
Ähnliches gilt für die Frage «Wie kann ich wissen, dass du Schmerzen hast, wenn ich doch nicht weiss, wie es in deinem Inneren aussieht?» Was ist dieses «Innere» überhaupt? Bei Schädel und Gehirn ist die Sache klar. Aber bei Gehirn und Geist?
Wie Wittgenstein schreibt, handelt es sich um ein «Durcheinander, das wir als ein Problem» empfinden. Damit sei im Übrigen nicht geleugnet, dass eine solches «Durcheinander» zu neuen fruchtbaren Problemen und Einsichten führen kann – man denke im «Fallen der Erde» nur an Einstein und seine Gravitationstheorie. Wittgenstein meinte nicht, dass wir keinen Zugang zu den seelischen Vorgängen und Zuständen anderer Personen haben. Er meinte, dass der metaphorische Gebrauch von Beschreibungen – zum Beispiel «innen–aussen» – uns oft gefangen hält wie die «Fliege im Fliegenglas». Wir sehen zwar hindurch, aber kommen nicht hindurch.
«Ich verstehe nur zu gut, was in dir jetzt vorgeht.» – Die Aussage setzt nicht voraus, dass man ins «Innere» der anderen Person treten kann; man teilt mit ihr einfach einen Erfahrungsraum, zu dem auch ein gemeinsamer Sprachgebrauch gehört. Diese Verbundenheit begründet das Medium, in dem wir uns immer schon sprechend «drinnen» befinden. Der Geist ist etwas Soziales, er ist nicht in uns, sondern wir sind vielmehr, miteinander kommunizierend, immer schon «im» Geist.
Wile. E. Coyote und die Philosophen
Philosophische Probleme entstehen oft, weil sie uns mit einer bestimmten Betrachtungsweise in Bann halten, uns verzaubern, ohne dass wir es bemerken. Gelingt es uns, die Probleme zu entzaubern, verschwinden sie wie ein Spuk. Und wir fühlen festen Boden unter uns. Philosophen erinnern gelegentlich an die Comicfigur Wile. E. Coyote, der über eine Klippe rennt, und weiter rennt. Er fällt erst dann in den Abgrund, wenn er merkt, dass unter ihm nur Luft ist. Das droht auch Philosophen. Dann freilich öffnet sich nicht etwa die Pforte zu höherer Einsicht, sondern zur Klapsmühle.