Einen Zusammenhang zwischen Philosophen und Spekulanten zu entdecken, scheint auf den ersten Blick gewagt. Denn wer mit Optionen handelt, entspricht nicht dem lehrbuchmässigen Bild eines Philosophen, meinen wir. Wie man sich täuschen kann!
Optionshandel in der Antike
Da hilft uns diese schöne Geschichte weiter. Es war einmal ein tüchtiger Mann, der übte folgende Option aus: Er hinterlegte eine Anzahlung auf das Recht (nicht aber die Pflicht), die Olivenpressen seiner Region zu einem tiefen Preis zu mieten. Als eine besonders gute Ernte anfiel, stieg der Bedarf an Olivenpressen. Jetzt löste der clevere Spekulant seine Option ein und vermietete darauf die Olivenpressen zu hohen Preisen. Damit wurde er innerhalb kurzer Zeit sehr reich.
Der erste Philosoph
Wie immer bei meinen philosophischen Überlegungen, reizt mich der Versuch, den Zeitsprung rund 2500 Jahre zurück mit einem Blick in die Gegenwart zu kombinieren. In diesem Fall: einen antiken Griechen quasi ins Heute an den Zürcher Paradeplatz zu versetzen, wo der Optionshandel floriert.
Oben zitierter Geschäftsmann lebte von 624 – 546 v. Chr. in Milet (heute Westküste der Türkei). Von vielen wird er als der erste Philosoph bezeichnet; ein echter Weiser war er jedenfalls. Die Rede ist vom Vorsokratiker Thales von Milet, dem Naturphilosophen. Weder existieren Schriften von ihm, noch Werke. Deshalb bleibt eine gewisse Unsicherheit, was er wirklich gesagt und getan hat. Jedenfalls hatte er eines Tages genug vom Gespött seiner Kollegen (die es in der blühenden Handelsstadt zu Wohlstand gebracht hatten), die ihn aufzogen, dass „diejenigen, die es können, es auch machen und die anderen eben philosophieren“.
Kaufmann, Astronom, Mathematiker
Es scheint wahrscheinlich, dass der Neugierige weit gereist war, nach Ägypten und weiter in den Osten. Jedenfalls hat er dort die astronomischen Kenntnisse erworben, die es ihm später ermöglichten, seinen verblüfften Zeitgenossen eine Sonnenfinsternis richtig vorauszusagen. Was ihn auszeichnete: Er nahm das orientalische Wissen in Astronomie und Mathematik auf und entwickelte es selbständig weiter. Damit schuf er sich den Namen des ersten der „Sieben Weisen“ der alten Welt.
Wenn die Tradition sagt, dass mit Thales die Philosophie überhaupt begonnen habe, so ist jedoch auch sein Leistungsausweis in der Mathematik beachtenswert. Bis heute gilt sein Lehrsatz, bekannt als „Thaleskreis“ - wonach alle Winkel am Halbkreisbogen rechte Winkel sind.
Zusammen mit seinen Kollegen Anaximander und Anaximenes wandte er sich gegen die herkömmlichen Göttervorstellungen, fragte nach dem Anfang der Dinge, beobachtete Naturerscheinungen und mischte sich in die Politik ein.
Gesuchter Ratgeber, in Gedanken versunkener Philosoph
Nach antiker Überlieferung werden Thales tiefsinnige philosophische Überlegungen zugeschrieben. So etwa soll er auf die Frage, was am schwersten von allen Dingen sei, geantwortet haben: „Sich selbst erkennen“; was am leichtesten sei: „Anderen Rat geben“. In unserer hektischen, mediengeprägten Gegenwart mit begnadeten Selbstdarstellern und institutionalisierten Ratgeberecken darf vermutet werden, dass beide Erkenntnisse manchmal etwas in Vergessenheit geraten.
Hübsch ist auch jene Anekdote, die sich jüngere Leserinnen und Leser besonders zu Herzen nehmen sollten: Als seine Mutter ihn zur Heirat drängt, winkt er ab: „Noch ist es nicht Zeit dazu“. Später, als er älter wird, beschwört ihn seine Mutter immer eindringlicher. Worauf er antwortet: „Nun ist die Zeit dazu vorüber“.
Platon erzählte später eine Geschichte, in der wir in Thales den mittlerweile bekannten Philosophen erkennen. Als er eines Tages die Sterne beobachtete, herumwanderte und dabei konzentriert nach oben blickte, fiel er unvermittelt in einen Brunnen. Da soll eine vorwitzige thrakische Magd ihn verspottet haben, er wolle wissen, was am Himmel sei, aber es bleibe ihm verborgen, was vor ihm und zu seinen Füssen liege. Auch Jahrhunderte später gehen Philosophen das Risiko ein, ab und zu etwas abwesend, ja weltfremd zu wirken und sich für die unmittelbare Umgebung wenig zu interessieren. Doch Platon verteidigt seinen Stand (und damit sich selbst): Wenn es um wesentliche Fragen geht, dann wissen die anderen nicht aus und ein und machen sich ihrerseits lächerlich – dann ist die Stunde des Philosophen gekommen.
Wesentliche Fragen
Täglich lesen wir in den Medien Statements von Politikern und Wirtschaftsführern. Sie geizen nicht mit klugen Antworten auf Fragen der Journalisten. Auch wenn Sie tatsächlich weder ein noch aus wissen, sondern sich an ihre eigene „Wahrheit“, auch Strategie genannt, klammern. Vielleicht hatte ihnen Thales einiges voraus? Er wollte dahinterkommen, was es in Wahrheit mit dem auf sich hat, was sich in so vielfältigen Dingen dieser Welt findet. Es ging ihm nicht um das Vordergründige, sondern um das Wesen der Dinge.
Nicht aus der eingeengten Sicht des involvierten Taktikers, berechnenden Politikers oder gewinnfixierten Händlers suchte er. Vielmehr forschte er nach dem Einen, dem alles Umfassenden, dem ganzheitlichen Prinzip hinter der sichtbaren Fassade. Als Erster stellte er die Fragen nach dem Wesen und dem Grunde – bis heute ein zentrales philosophisches Anliegen.
Materieller und geistiger Reichtum
Die Thales-Anekdote mit den Olivenpressen ist ungebrochen aktuell. Sie zeigt, dass Thales‘ Engagement für die Philosophie echt war, denn er hätte offensichtlich auch andere Optionen gehabt. Auf diese Weise konnte er sich sein Philosophieren selbst finanzieren, er war unabhängig und geistig produktiv. Er musste niemandem Rechenschaft ablegen.
Auch heute gibt es Spekulanten, die durch den Optionshandel reich geworden sind. Der abwertende Anstrich des Spekulanten überdeckt die ursprüngliche Bedeutung des Wortes Spekulation: Ausspähen, sich umsehen nach Gewinnen, die sich aus zukünftigen Veränderungen der Preise erzielen lassen. Das ist ganz offensichtlich eine altbewährte, durchaus ehrenhafte Betätigung. Sie belastet den Staatshaushalt nicht, im Gegensatz zu den aktuellen, vielfältigen Ansprüchen an den Wohlfahrtsstaat.
Wer heute bei Sonnenuntergang vom Hügel des Kalabak auf die spärlichen Überreste des einst prächtigen Stadtstaates (Mutterstadt von fast 90 Kolonien) hinunterblickt, ist beeindruckt von der grossartigen Schönheit der Landschaft. Der Fluss Mäander hat die antiken Siedlungsüberreste längst von der Küste entfernt, was auch zum Untergang der ionischen Hafenstadt beitrug. Die wenigen Ruinen ragen einsam aus dem Schwemmland heraus. Der materielle Reichtum ist längst untergegangen. Das geistige Erbe jener Epoche hat nicht nur überlebt, es ist aktuell, ja zeitlos modern.