Der junge Berner Michael Fehr liess mit seinem sprachvirtuosen und kraftvollen Erstling "Kurz vor der Erlösung" aufhorchen. Mit Auszügen aus seinem zweiten Buch "Simeliberg" gewann er an den letztjährigen Klagenfurter Tagen der deutschsprachigen Literatur den zweiten Preis. Jetzt liegt der mit Spannung erwartete Text gedruckt vor. Die 134 schmalen Seiten sind eine abgründige, packend irritierende Erzählung. Eine neue literarische Stimme behauptet sich.
Poetisch geschildertes Elend
Mehr skizzenhaft als detailliert, mehr schaufelweise hingeworfen als fein abgewogen konfrontiert uns Michael Fehr mit einem tristen Berner Krachen, in dem einem Bauern die Fürsorgemühle droht, vermutungsweise ein Mord geschah, Rechtsradikale dumpf wüten und die Explosion eines Bauernhofs mehrere Tote fordert. In alle Geschehnisse ist der Gemeindeverwalter teils amtlich, teils zufällig und stets hilflos verwickelt.
Das hört sich in der Zusammenfassung fürchterlich an, liest sich aber als genau beobachtetes, mitfühlend und in poetischer Sprache geschildertes Elend. Die Personen sind fremdbestimmte Opfer dunkel waltender Mächte. Während der ganzen Erzählung regnet es bodenaufweichend, meist herrscht schwarze Nacht. Beim Lesenden entsteht der Eindruck, selber durch den Pflotsch zu waten und sich zu verdrecken. Der Text ist von höchster Intensität.
Eine schweizerische Anti-Idylle
Die Wahrnehmung wäre oberflächlich, es handle sich um einen Krimi. Michael Fehr geht es um eine schweizerische Anti-Idylle. Nichts ist schön, alles entsetzlich. Er hält es mit Jeremias Gotthelf als dem Mahner und Aufrüttler und straft die Gotthelf-Verfilmungen mit aufgewühlter Verachtung. Die Erinnerung an Bernhard Luginbühls "Kleinen Emmentalfilm" wird wach. Mehr als vierzig Jahre später reisst Michael Fehr die Klischees einer heilen Welt literarisch vollends in Stücke.
Der Wutausbruch wirkt um so verstörender, als der Buchtitel "Simeliberg" doppelt in die Irre führt. Er spielt zunächst an aufs gleichnamige Märchen der Brüder Grimm, ohne jedoch dessen Zauberhaftigkeit zu meinen. Im Gegenteil. Auch die Verbindung zum Simelibärg im anrührend traurigen Volkslied "Vreneli ab em Guggisberg" täuscht, es sei denn, Michael Fehr verwende das besungene gebrochene Mühlrad als Metapher für eine kaputte Schweiz. Dazu kontrastiert die Musikalität der Sprache.
Interessanter Zwiespalt
Es lohnt sich, "Simeliberg" laut zu lesen. Der Autor kann es mit seiner wortsuchenden Langsamkeit und seinem unverwechselbaren Tonfall am besten. Das wirft die Frage auf, ob es sich um einen Lese- oder Hörtext handelt. Mit diesem interessanten Zwiespalt hat es eine besondere Bewandtnis.
Michael Fehr ist von Geburt stark sehbehindert. Weil er deshalb nicht schreiben kann, spricht er auf einen Audiorekorder, hört die Aufnahme ab und bearbeitet sie wiederum diktierend, und zwar so lange erweiternd oder kürzend und verwegene sprachliche Komplikationen einbauend, bis der Text perfekt klingt. Trägt er ihn öffentlich vor, liest er nicht ab, sondern lässt sich ab Rekorder Satz für Satz ins Ohr einspielen und spricht nach. Diese Methode der "spoken scripts" ergibt technisch bedingte Kürzestpausen, die den Vortrag raffiniert strukturieren.
Inhaltlich und formal, ob still lesend oder sich selber vorlesend, ist "Simeliberg" ein Wurf.
Michael Fehr, "Simeliberg", Velag "Der gesunde Menschenversand", Luzern 2015, ISBN 978-3-03853-003-9