Manchmal reise auch ich dorthin und lasse mich inspirieren von den unzähligen Themen und Debatten. Kaum bin ich da, tauche ich ein in die Sprachwelt der internationalen Theologie. Zu jedem Thema gibt es etliche Veranstaltungen aus interreligiöser, biblischer, ökologischer, globaler, politischer, kulturkritischer oder postmoderner Perspektive.
Überwältigt vom Angebot gehe ich irgendwann ins Untergeschoss des Kongressgebäudes. Dort sind auf 200 Quadratmetern Tausende von Büchern ausgestellt. Die Leute schlängeln sich durch die Verlags-Stände und schauen sich die Neuveröffentlichungen an. Auch ich laufe durch die engen Gänge, springe von einem Buchtitel zum nächsten und gewinne einen Eindruck, was im Moment in den Fachkreisen diskutiert wird.
Die Worte sammeln sich in meinem Kopf. Während ich die Titel scanne, höre ich die Menschen um mich herum sprechen. Die meisten sprechen Englisch, viele mit einem Akzent, aber ich höre auch Französisch, Spanisch, Japanisch und Deutsch, ab und zu sogar Schweizerdeutsch, denn ein paar Kolleginnen und Kollegen sind ebenfalls zum Kongress gereist.
Mit einem Mal sind alle Internetverbindungen lahm gelegt
Die Luft vibriert vom multinationalen Austausch der Informationen. An den Tischen in der grossen Lobby sitzen die Leute mit ihren Kaffeebechern, Laptops und Smartphone. Manche sprechen in ihre Handys, manche unterhalten sich. Ich laufe durch die Menschenmassen und denke an die Geschichte vom Turmbau zu Babel in Genesis 11: Und Gott schaute hinab auf die Menschen und sprach: Ein Volk sind sie und sprechen alle dieselbe Sprache – nichts wird ihnen unmöglich sein. Lasst uns hinabsteigen und ihre Sprache verwirren.
Ich stelle mir vor, Gott steigt hinab nach Nordamerika. Mit mächtiger Hand zerstört der Ewige die gesamte Kommunikation auf dem theologischen Kongress. Mit einem Mal sind alle Internetverbindungen lahm gelegt. Die Bildschirme erstarren. Die Männer und Frauen an den Laptops schauen sich an und rufen: „Was ist los? Kann jemand mal den Anschluss reparieren?“ Doch jede Person spricht plötzlich in einer fremden Sprache. „Was haben Sie gesagt?“ Unbekannte Laute tönen durch die Lobby. Auch das Hotelpersonal kann sich nicht mehr verständigen.
Weiterrreden - und niemand hört zu
In den Vortrags-Sälen verstehen die Menschen plötzlich kein Wort mehr. Gerade hatte man sich noch Notizen gemacht zur Argumentation einer Kollegin. Die Kollegin redet weiter bis sie merkt, dass ihr niemand mehr zuhört. Sie verstummt und schaut ratlos zum Moderator herüber, der selbst ganz blass geworden ist.
Auch in der grossen Buchausstellung ist man stumm vor Schreck. Theologinnen und Theologen starren fassungslos auf die vielen Bücher. Sie können keinen einzigen Buchtitel entziffern. Keines der Schlagworte des theologischen Vokabulars - sei es „Schöpfung“, „Mystik“, „Trinität“ oder „Apokalypse“ - hat noch irgendeine Bedeutung. Selbst Worte wir „Glaube“, „Freiheit“, „Gnade“ und „Sünde“ sind unbegreiflich geworden.
Was passiert als nächstes? Wie lange würde es dauern, bis sich die sprachverwirrten Menschen ein wenig aneinander orientieren könnten? Wie würden sie miteinander umgehen? Würden sie Gesten finden, mit denen sie sich über den ersten Schock verständigen könnten? Ein Stirnrunzeln? Ein Schulterzucken? Ein Kopfschütteln? Wie lange würde es dauern, bis sie ein erstes gemeinsames Wort sprechen könnten? Würde die heilige Geistkraft den Theologinnen und Theologen irgendwann die Stimme zurückgeben?
Die christliche Predigt beginnt, sich selbst zu globalisieren
In der christlichen Tradition ist Pfingsten manchmal als Antwort auf die Geschichte vom Turmbau zu Babel ausgelegt worden. In Babel hat Gott die Sprachen der Menschen verwirrt. Zu Pfingsten hat Gott die Sprachen der Menschen sozusagen wieder zusammengefügt. Folgt man dieser Auslegung dann löst Pfingsten das Problem, das in Babel entstand.
Nachdem die Menschen in Babel mit ihren unterschiedlichen Sprachen in alle Himmelsrichtungen verteilt wurden, kommen sie in Jerusalem aus allen Völkern unter dem Himmel wieder zusammen. Sie kommen aus Asien, aus Ägypten, aus Libyen, aus Arabien, aus Rom: eine multikulturelle Menschenmasse. Die Menschen kommen zusammen und hören, wie die Anhängerinnen und Anhänger Jesu predigen. Dabei geschieht – so erzählt die Apostelgeschichte - ein unglaubliches Sprachwunder. Denn die Menschen, die zuhören, hören - egal woher sie kommen - die Worte der Predigt in der eigenen Muttersprache. Dank der Kraft des Heiligen Geistes macht sich die christliche Predigt in allen Sprachen verständlich. Man könnte auch sagen: die christliche Predigt beginnt, sich selbst zu globalisieren. Keine Sprach- und Ländergrenze wird ihr Einhalt gebieten.
Globalisierte christliche Sprache
2000 Jahre später hat sich das Sprachwunder von Pfingsten tatsächlich über die ganze Welt verbreitet. Weltweite Kirchenorganisationen, die internationale theologische Forschung und das Internet bringen Menschen über Sprach- und Ländergrenzen miteinander Tag für Tag ins Gespräch. Nicht alle Grenzen werden mit der gleichen Leichtigkeit überwunden. Es hat lange gedauert, bis sich die Stimmen von Menschen aus den Ländern des Südens in die Diskussionen in Nordamerika und Europa einmischen konnten. Und doch existiert an vielen Orten heute eine globalisierte christliche Sprache. Das Pfingstwunder ist ständig dabei, sich zu entfalten und es gibt Verbände mit Tausenden von Mitgliedern aus allen fünf Kontinenten.
Das Problem unserer Zeit ist nicht die fehlende Kommunikation zwischen den Sprachen und Kulturen. Das Problem, das mich umtreibt, ist, dass die Worte, die wir miteinander austauschen - sei es in Deutsch oder in Englisch, sei es über den Bildschirm oder von Angesicht zu Angesicht - dass mir diese vielen Worte fragwürdig erscheinen, weil ich nicht mehr weiss, was sie eigentlich im lokalen Kontext genau bedeuten.
Was bedeutet das Wort "Evangelium" für die Einzelnen?
Es gibt so viele Worte, die ich als Theologin mit anderen teile als ob völlig klar sei, was ich mit ihnen meine. „Frieden“, „Gerechtigkeit“ und „Bewahrung der Schöpfung“ sind für mich zentrale Worte des kirchlichen Engagements. Aber was bedeuten sie heute unter den konkreten Bedingungen eines bestimmten Ortes drei Jahrzehnte nachdem sie der Ökumenische Rat der Kirchen ins Leben gerufen hat?
„Evangelium“, „Mission“ oder „Spiritualität“ sind Worte, die den kirchlichen Diskurs Tag für Tag prägen. Aber manchmal sitze ich in einer Versammlung und habe keine Ahnung, was das Wort „Evangelium“ für die einzelnen Menschen genau bedeutet, die mit mir zusammen sitzen.
Müsste ein Pfingstwunder für unsere Zeit nicht einen ganz anderen Verlauf nehmen als das, was in der Apostelgeschichte erzählt wird? Ich wünsche mir manchmal, dass die Selbstverständlichkeit, mit der wir die grossen Worte unserer Zeit miteinander teilen, für eine Weile unterbrochen werden würde. Und ich stelle mir vor wie es wäre, wenn sie uns für eine Weile abhandenkämen: Worte wie „Liebe“ oder „Geist“ und ja, vielleicht sogar das Wort „Gott“. Dann wären solche Worte nichts weiter als merkwürdige Laute oder ein paar Striche und Kurven auf einem Blatt Papier.
Erfrischt zu neuem Leben
Für eine Weile wären wir in unserer Religiosität angewiesen auf unsere elementarsten Sinneswahrnehmungen. Es ginge uns ein bisschen wie den ganz kleinen Kindern, die noch bevor sie das erste Wort lernen, diese Welt in all ihren Farben und Schattierungen in sich aufsaugen und ganz genau wahrnehmen, wenn etwas schmerzt, wenn jemand weint, wenn etwas Angst macht, wenn es kalt ist, wenn wir satt werden.
Ein Pfingstwunder für unsere Zeit - ich stelle mir vor, es wäre genau das Gegenteil von der Geschichte, die sich Christinnen und Christen jedes Jahr zu Pfingsten erzählen. Das Pfingstwunder würde heute keine Sprachbarrieren überwinden müssen. Stattdessen würde es uns dazu zwingen, dass wir die Worte einmal loslassen. Dann wären wir in der Hand der Heiligen Geistkraft, die unsere Sinne öffnet und uns erfrischt zu neuem Leben.
Pfarrerin Dr. Tania Oldenhage