Eine Wanderung rund um den Pfäffikersee gibt Anlass, über das Gedächtnis eines Sees nachzudenken und weckt Erinnerungen an den eigenen Grossvater.
Als ich von Uster hinter Wermatswil über die Hügelkuppe fahre, mahnt mich die Szenerie an das Altarbild in einer Barock-Kirche. Am Horizont trennt eine scharfe Linie ein helles Lichtband von einer dunkel über dem Pfäffikersee liegenden Wolkendecke. Durch ein Loch zwängt sich die Sonne und zeichnet mit ihren Strahlen ein feines Muster auf den grauen Hintergrund.
Bis ich das Auto auf dem kleinen Parkplatz bei der Holzweid abgestellt und zum Seeufer hinunter gegangen bin, ist das Sonnenloch zwar schon fast wieder geschlossen. Aber der Horizont, vor dem sich das Schilf sanft im Biswind wiegt, leuchtet noch immer in hellem Gold.
Ich wende mich südwärts, dem Talhof und Seegräben zu. Der Weg ist manchenorts vereist. An andern Stellen zwingen mich ausgedehnte Wasserlachen zum Ausweichen ins weiche Moor. Es gurgelt und quietscht, und meine Wanderschuhe glänzen danach in feuchtem Schwarz. Am Wegrand arbeitet ein Rabe eifrig an einem nicht identifizierbaren Leckerbissen und hüpft schliesslich, als ich schon ganz nahe bin, mit einem indignierten Blick ein paar Meter zur Seite.
Später treffe ich eine Frau mit Hund, welcher, die Nase dicht am Boden, eifrig Nachrichten liest, von denen wir Menschen keine Ahnung haben. Immer wieder muss sie ihn mit einem Ruck an der Leine auf den Weg zurückbeordern. Natürlich denke ich unweigerlich an die eigenen Hunde, welche mein Leben während fast vierzig Jahren begleitet – und manchmal auch bestimmt – haben. Keiner liess sich je seine Würde durch längeres Angeleint-Sein nehmen, weswegen in jener Zeit der Weg um den Pfäffikersee, wo Leinenpflicht herrscht, nicht zu meinem Wanderprogramm gehörte – so sehr ich den See liebte.
Noch ist es still und einsam. Nur hie und da schallt der schrille Schrei eines Blässhuhns übers Wasser. Am andern Ufer setzt das unverkennbare akustische Warnsignal eines Bahnübergangs ein; kurz danach fährt von Wetzikon her die S3 am Römerkastell vorbei nach Pfäffikon. Das Badehaus Seegräben, sauber geputzt, scheint Zwiesprache zu halten mit dem einsamen Sprungturm draussen im See. Vielleicht tauschen die beiden Erinnerungen aus vom letzten Sommer, als hier das fröhliche Geschrei und Geplantsche der Badenden den Ton angab. Vielleicht aber blinzeln sie sich nur kurz zu und fallen dann zurück in den seligen Winterschlaf.
Überhaupt, wer von uns Menschen weiss denn, wie es ist, Teil eines Sees oder gar ein ganzer See zu sein? Ich jedenfalls würde, wäre ich ein See, den Winter und die Nacht mehr lieben als die heissen Sonntagnachmittage im August. Dann wäre ich die Störenfriede los – wie die Kühe im Winter die «Brämä» (Bremsen) – und könnte mich – ich wäre immerhin 14’000 Jahre alt – wohlig über meine gut drei Quadratkilometer austrecken und mich meinem „Bauchgefühl“ überlassen, das dort, wo es am tiefsten ist, 36 Meter hinabreicht ins geheimnisvolle Dunkel.
Dort unten im Schlamm läge mein Gedächtnis, die Erinnerung sowohl an die «guten alten Zeiten» als auch an die jüngste Vergangenheit, als der Mensch mit seinen Abwässern meinen Bauch überfütterte, bis die 57 Milliarden Liter Wasser, die darin lagern, nach faulen Eiern stanken. Unterdessen, so würde ich mir sagen, hat der Mensch zwar seine Sünden weitestgehend korrigiert, hat Kläranlagen gebaut, den Bauern in meiner Nähe das Düngen verboten und mich sogar während gut zwanzig Jahren künstlich beatmet (1). Aber ganz genesen bin ich noch lange nicht, weil mein Sediment am Seegrund – Zeuge der Vergangenheit – noch immer nach Sauerstoff dürstet.
Eutrophierung («reich genährt» – oder eher «überfressen») nennt man mein Leiden; es verhindert die natürliche Fortpflanzung gewisser Fische, der leckeren Felchen zum Beispiel, welche sich nur halten können, weil der Mensch jedes Jahr Jungfische in den See einsetzt ...
Aber ich bin nun einmal kein See, im Gegenteil, ich bin ein Störenfried, der nun den südlichsten Punkt seiner Wanderung erreicht hat und jetzt ostwärts durch das Robenhuserriet geht. Schon vor 10’000 Jahren lebten hier, als das heutige Ried noch weitgehend offene Wasserfläche war, Pfahlbauer. Dieses Wissen verdanken wir vor allem dem Oberländer Landwirt Jakob Messikommer (1828–1917), der schon 1858 erste archäologische Grabungen veranlasst hatte. Damals (und bis 1950) wurde im Robenhuserriet auch Torf abgebaut.
Auf der Brücke über den Aabach bleibe ich stehen. Eigentlich ist es höchst seltsam, denke ich, dass sich der Abfluss des Sees hier im Süden befindet und nicht im Norden wie im Greifen- und Zürichsee. Ein Blick auf die Karte zeigt, dass in der Region alle Flüsse, die Limmat, die Glatt, die Töss und auch die Thur, nach Norden zum Rhein hin fliessen. Tatsächlich hätte es auch für den Pfäffikersee eine nordwärts gerichtete Abflussrinne gegeben, das Tal der Kempt.
Doch eine zufällig anmutende Laune der Natur hat dem Pfäffikersee in Form einer nur wenige Meter hohen Endmoräne, welche der Linthgletscher zwischen Pfäffikon und Fehraltorf liegen gelassen hat, den Abfluss nach Norden «verleidet». So kam es, dass sich das Wasser für den Hinterausgang entschied, sich einen Weg südwärts durch das verlandende Robenhuserriet suchte, schliesslich nördlich von Wetzikon seine Richtung um fast 180 Grad änderte und sich durch das enge Aathal nach Uster und zum Greifensee zwängte. So wurden in grauer Vorzeit die eigentlich in parallelen Tälern liegenden Seen zu einer Art Seenkette.
Den Pfahlbautenweg Richtung Wetzikon lasse ich rechts liegen. Kaum ein Kilometer vom Abfluss entfernt, beim Bad von Auslikon, quere ich den einzigen namhaften Seezufluss, den Chämtnerbach. Er entspringt als Aabach in der Nähe der Täuferhöhle unterhalb des Allmen, fliesst via Bäretswil durch das steile Chämtnertobel, erreicht – nach einem Namenswechsel zum Chämtnerbach – den Pfäffikersee, und nimmt schliesslich als Seeabfluss wieder seinen alten Namen an. Der Aabach alias Chämtnerbach hat während der frühen Industrialisierung der Region als Lieferant mechanischer Energie eine wichtige Rolle gespielt, aber – er müsste kein Zürcher Oberländer sein –immer wieder in Form zerstörerischer Hochwasser gegen seine Zähmung aufbegehrt.
Ausserhalb der Badesaison führt der Rundwanderweg durch das Gelände des Bades, das auf dem Delta des Chämtnerbaches angelegt wurde. Am Rande der Liegewiese hat sich ein «Bird Watcher» mit seinem Fotostativ installiert. Der Pfäffikersee ist nicht nur für sesshafte, sondern auch für durchziehende Wasservögel wichtig, doch ob gerade ein besonderer «Ausländer» zu entdecken wäre, kann ich als Laie nicht beurteilen.
Ich gehe jetzt dem östlichen Ufer entlang nordwärts. Der Weg verläuft hier einige hundert Meter vom Ufer entfernt. Der Linthgletscher hat zwei Drumlins zurückgelassen, längliche Hügel, welche sich unter besonderen Bedingungen unter einem Gletscher als Grundmoräne bilden.
Auf dem nördlichen haben die Römer im 4. Jahrhundert zur Sicherung der Strasse von Kempraten (am Zürichsee bei Rapperswil-Jona) nach Vitudurum (Winterthur) und weiter zur römischen Rheingrenze eine kleine Befestigung gebaut, das Kastell Irgenhausen. Es wurde aber schon im 5. Jahrhundert wieder aufgegeben und diente, wie man annimmt, später als Baumaterialspender für eine mittelalterliche Burg in der Nähe. Das Kastell wurde im 20. Jahrhundert von der Antiquarischen Gesellschaft Pfäffikon unter Verwendung von Originalsteinen rekonstruiert.
Ich spare mir für heute den kleinen Umweg hinauf zum Kastell und wandere weiter nach Pfäffikon, der einzigen Siedlung, welche direkt am See liegt und wo es einen durch eine Mauer gegen den See abgegrenzten Platz gibt. Dort steht, halb in den See hinausgebaut, ein kleiner Pavillon. Ob sich die Pfäffiker wohl einst eine Uferpromenade mit Schiffstation wie in Luzern oder Zürich vorgestellt hatten?
Gegenüber steht noch immer das erste Fabrikgebäude der im Jahre 1882 gegründeten Huber AG, Telegraphendraht- und Kabelfabrik, welche 1969 mit der Suhner & Co. AG, Herisau zur Huber+Suhner AG fusionierte. – Seltsam, dass mir das jetzt in den Sinn kommt. Der Name Huber AG blieb mir seit meiner Kindheit deswegen in Erinnerung, weil mein Grossvater mütterlicherseits, Alfred Stahel, in den 1930er Jahren als Ökonom für die Firma tätig gewesen sein muss.
Nach seinem frühen Tod 1946 fand ich als Primarschüler, der immer auf der Suche nach Schreib- und Zeichnungspapier war, im grossmütterlichen Haushalt Stapel von vorgedruckten Formularen, welche den Firmennamen R.+E. Huber AG trugen. Irgendwo stiess ich auch auf die Bezeichnung «Gummi- und Guttapercha -Warenfabrik», lernte aber erst viel später, dass Guttapercha einen aus Pflanzensaft hergestellten kautschukähnlichen Stoff benennt, den man zur Isolation von elektrischen Kabeln verwendete. Als neugieriger Bub habe ich mich damals gewundert, dass eine Gummiwarenfabrik ausgerechnet am Ufer eines kleinen Schweizer Sees steht, das man doch zum Baden viel besser hätte nutzen können.
Nun ist es nur noch ein kleiner Sprung dem nördlichen Ende entlang zurück zum Ausgangspunkt meiner Wanderung. Sie führt vorbei am Naturzentrum Pfäffikon, wo einst ein Restaurant namens Seerose stand, auf deren Terrasse wir unsere eigenen Kinder jeweils mit Glace für den langen Marsch um den See belohnt hatten. Hätte der Linthgletscher etwas tiefer gegraben, würde wohl hier der Seeabfluss liegen. Auf der Karte lese ich die Bezeichnung Giwiggsenriet. Was für ein Name! Er scheint speziell für Schweizerdeutsch-Lektionen für Ausländern geschaffen worden zu sein!
Nach zwei Stunden bin ich zurück beim Auto. Joggerinnen und Jogger haben unterdessen den Uferweg erobert. Der Hochnebel bemüht sich um seine eigene Liquidation. – Ob sich die Menschen vor 10’000 Jahren wohl auch schon über Nebel und Föhn beklagt haben?
(1) Zwischen 1992 und 2011 wurde zur besseren Durchmischung des Sees und zur Kompensation des sommerlichen Sauerstoffdefizits Druckluft in den Pfäffikersee eingebracht.