Zögerlich und spät haben die Pekinger Umweltbehörden endlich reagiert. Die Alarmstufe Orange, die zweithöchste, wurde amtlich deklariert. „Die Bürger“, hiess es im besten Beamten-Chinesisch, „tun am besten daran, drinnen zu bleiben und anstrengende Tätigkeiten sollen unterlassen werden“. Der Rekordsmog führte auch dazu, dass der schlechten Sicht wegen vorübergehend Autobahnen gesperrt wurden. Und Flüge auf dem internationalen Flughafen gestrichen werden mussten. In der die Hauptstadt umgebenden Provinz Hebei verfügten die Behörden zum ersten Mal eine „Naturkatasrophen-Warnung“.
Noch kurz vor Jahresende liess die amtliche Nachrichten-Agentur Xinhua (Neues China) die Welt und die Chinesinnen und Chinesen wissen, dass die Pekinger Luft zum vierzehnten mal hintereinander besser geworden ist. Ein Blogger auf der chinesischen Twitter-Version Weibo schrieb sarkastisch: „Mich nimmt wunder, ob die alten Knacker im Partei- und Regierungsviertel immer noch Frühsport treiben“.
In Zhongnanhai, dem im Volksmund als „Neue Verbotene Stadt“ benannten Machtzentrum, kommen allerdings die Partei-Granden nicht in Atemnot. Bereits vor Monaten wurden dort über zweihundert Luftreiniger der chinesischen Firma Yuarida installiert, zum Stückpreis von 6000 Yuan, dem durchschnittlichen Monatslohn eines Pekingers. Yuarida-Luftwaschmaschinen sind derzeit in chinesischen Grossstädten ein Verkaufsschlager.
Nicht nur Peking ist betroffen
Die Messwerte sind alarmierend und übertreffen jene der Weltgesundheitsorganisation WHO um mehr als das zwanzigfache. Von den 500 grössten chinesischen Städten erfüllen nicht einmal fünf Prozent den von der WHO gesetzten Minimal-Standard. Pekings Luft wird jetzt medienwirksam in internationalen Medien angeprangert. Doch das Problem betrifft nicht nur die Hauptstadt, sondern ganz China, insbesondere den trockenen, wasserarmen Norden.
Die chinesischen Behörden veröffentlichen erst seit einem Jahr die Zahlen über die besonders gefährlichen Feinstaubpartikel. Die amerikanische Botschaft in Peking begann bereits vor vier Jahren mit Messungen auf dem Botschaftsdach und veröffentlicht die erhobenen Werte auf dem Internet.
Die chinesischen Behörden reagierten gereizt und verbaten sich, die chinesische Umwelt „nach amerikanischen Standards“ zu messen. Die „amerikanischen Standards“ aber sind die Standards der WHO, und die schreiben vor, dass mehr als 25 Mikrogramm Feinstaub pro Kubikmeter der Gesundheit abträglich seien. Die Skala der amerikanischen Botschaft schlug letzte Woche bis auf 800 aus, während jene der chinesischen Messstationen bei 500 aufhören.
Als die chinesische Skala neulich bei 500 anschlug, meldete die Nachrichten-Agentur trocken: „Skala gesprengt“. Dass die chinesischen und amerikanischen Messungen nicht die gleichen Werte erreichen, hängt auch damit zusammen, dass sich die amerikanische Botschaft mitten in der Stadt befindet, während die chinesischen Luftdaten meist am Stadtrand erhoben werden.
Die Notfallstationen sind überfordert
Die Feinstaubpartikel PM 2,5 wirken sich in hoher Konzentration wie in China verheerend auf die Gesundheit aus. Atemwegserkrankungen, vor allem bei Kindern und Alten, Herzleiden, Schlaganfälle, Krebs, Augen-, Hals- und Mundentzündungen – die Notfallstationen der Spitäler sind heillos überfüllt und zuweilen überfordert. Nachdem die Behörden das Umweltproblem zwar nicht verschwiegen aber jahrelang klein geredet haben, beginnt sich das jetzt zu ändern.
Das Sprachrohr der Partei „Renmin Ribao“ (Volkszeitung) gab den parteioffiziellen Ton vor und fragte besorgt: „Was ist mit der Pekinger Luft los?“. Sowohl in der Führung der allmächtigen Kommunistischen Partei als auch bei Lokalregierungen ist klar, dass das Umwelt-Desaster eine direkte Folge des rasanten Wirtschaftswachstums der letzten Jahrzehnte ist. Die Zahl der Autos – mit europäischen Abgasvorschriften notabene – hat sich in den letzten zehn Jahren in Peking verdreifacht auf über fünf Millionen. Fabriken, Schwerindustrie, Kraftwerke Sonderzahl sind zu der bereits vorhandenen industriellen Infrastruktur hinzugekommen. Der Stromverbrauch ist steil angestiegen, und das heisst, dass noch mehr umweltschädliche Kohle in die Luft gepustet wird. Rund 70 Prozent der gesamten Elektritzitätsproduktion Chinas wird mit Kohle bestritten. Kein Wunder deshalb, dass in China Atomstrom als sauber gilt. China hat in den letzten zehn Jahren auch viele auf dem Papier durchaus griffige Umwelt-Gesetze verabschiedet. Allein es fehlt oft an der Durchsetzung.
Wie wenn Du zwanzig Zigaretten rauchst, ohne Filter
Erstaunlich allerdings ist, dass die Schmutzglocke über Nordchina und Peking erst jetzt international zum Thema wird und Schlagzeilen generiert. Schon vor zehn Jahren nämlich war die Luft in Peking zum Abschneiden. Ein chinesischer Arzt sagte mir schon damals, dass es in in der Hauptstadt des Reichs der Mitte keine Rolle spiele, ob man raucht oder nicht. Mit einer Zigarette in der Hand sagte der Arzt mit einem schiefen Lächeln: „Die Luft hier in Peking ist so, wie wenn Du täglich zwanzig Zigaretten rauchst. Ohne Filter“.
Die Behörden haben zwar einiges unternommen, doch bei weitem nicht genug. Vor allem versuchten sie immer wieder, den Bürgerinnen und Bürgern ein X für ein U vorzumachen. Die Olympischen Spiele 2008 sind ein typisches Beispiel. Die ausländischen Athleten und Besucher atmeten tatsächlich während den offiziell als „sauber“ deklarierten Spiele mehr oder weniger frische, gesunde Luft. Das wurde aber nur deshalb möglich, weil die Hälfte aller Autos nicht fahren durften und die meisten Fabriken und zumal die Schwerindustrie vor und während den Spielen abgestellt worden sind.
Murrendes Volk
Dass Peking jetzt in den Fokus der internationalen Medien kommt, ist ziemlich erstaunlich. Viele Auslandkorrespondenten leben und arbeiten seit Jahren in der Pekinger Dreckluft. Darüber berichtet haben sie nur ganz selten. Jetzt ist plötzlich alles anders. Vermutlich hat die Wahrnehmung der auf Pressefreiheit so erpichten Auslandjournalisten mit dem Machtwechsel an der Spitze der KP zu tun. Smog und extreme Umweltverschmutzung wurden für die neue Parteiführung mit Generalsekretär Xi Jinping an der Spitze zum Thema, denn das schwer atmende Volk murrte und wollte Taten sehen. Nicht Worte und „leeres Geschwätz“, verkündete vollmundig gleich zu Beginn seiner Herrschaft der neue Parteichef Xi, seien gefragt, sondern Lösungen und Taten.
Der Druck auf die Pekinger und andere Lokalbehörden etwas gegen den Dreck in der Luft zu tun, wurde offenbar übermächtig. Aber Illusionen, hiess es in einem parteiamtlichen Kommentar, sollte man sich nicht machen. Vizeministerpräsident Li Keqiang, die Nummer 2 der Partei und ab März neuer Premierminister, liess sich ganz im Stile von Parteichef Xi mit den Worten zitieren: „Luftverschmutzung ist ein langfristiges Thema, und es wird lange dauern, bis es gelöst ist. Aber wir müssen dringend etwas tun“. Chinesische Sozialwissenschaftler erinnern denn zu Recht auch immer wieder daran, dass die westlichen Industriestaaten seit der industriellen Revolution vor mehr als zweihundert Jahren die Umwelt gnadenlos und ohne Rücksicht auf Verluste ausgebeutet und verschmutzt haben. Smog geplagte Städte und heillos verdreckte Gewässer waren in Amerika und Europa ja noch vor wenigen Jahrzehnten der Normalfall.
China investiert doppelt soviel in den Umweltschutz wie die USA
Heute ist China – zusammen mit den USA – die grösste Dreckschleuder der Welt. In den Top 20 der schmutzigsten Städte der Welt finden sich 16 chinesische Städte. Was den CO2-Ausstoss betrifft, hat China Amerika unterdessen überholt, und wie. Aber: China investiert massiv in den Umweltschutz, rund doppelt soviel wie die USA. Und auch als Energieverbraucher ist Amerika noch einsame Spitze. So konsumiert jeder Chinese 1,69 Tonnen Rohöl-Einheiten pro Jahr, der Amerikaner dagegen 6,95 und der Ölkonsum pro Tag beläuft sich in China auf knapp 10 Millionen Fass, in den USA dagegen auf 19 Millionen.
Im Westen jedenfalls sollte man sich – die Pekinger Smog- und Dreck-Glocke betrachtend – nicht allzuviel aufs eigene gute Vorbild berufen. Mittlerweile sind wir – im Gegensatz zu China – reich und können uns den Luxus strenger Umweltauflagen leisten. Umweltbelastung dagegen haben wir auch in nicht geringem Ausmass delegiert in Länder, wo billig, umweltbelastend und mit geringer Energieeffizienz produziert wird. Zum Beispiel nach China.