Das neue Epizentrum Asien ist wirtschaftlich erfolgreich, tut sich aber oft schwer im regionalen Zusammenleben. Der Nationalismus, in Europa in der extremen Form überwunden, feiert Urstände.
Hunderttausende gingen vor Kurzem in vielen Städten Chinas auf die Strasse, um gegen Japan zu demonstrieren. Spontan, nicht von der Partei organisiert wie sonst üblich. Die Japaner nämlich massten sich nach chinesischer Auffassung einmal mehr an, das im ostchinesischen Meer gelegene felsige Eiland Diaoyu – japanisch Senkaku – für sich zu beanspruchen.
Weiter nördlich im Japanischen Meer beansprucht Japan die Takeschima-Inseln. Südkorea lässt sich das nicht bieten. Ostentativ besuchte Südkoreas Präsident Lee Myung-bak die Insel, die Südkorea für sich beansprucht und Dokodo-Inseln nennt.
Im südchinesischen Meer wiederum wird es noch komplizierter, weil dort verschiedene Inselgruppen, meist Riffs und unbewohnte Steinhaufen, von mehreren Staaten für sich reklamiert werden. Auf chinesischen Karten freilich sind praktisch sämtliche Inseln als chinesisches Territorium verzeichnet. Historisch betrachtet, so begründet China den Anspruch, gehören die Inseln seit alters her zum Reich der Mitte. Doch die Spratly-Inseln zum Beispiel – chinesisch Nansha – werden auch von Vietnam, Malaysia, Brunei und den Philippinen beansprucht.
Die USA, schon immer auch eine pazifische Macht
In den letzten zwanzig Jahren ist es verschiedentlich zu gewaltsamen Zwischenfällen gekommen. China hat inzwischen auch einige Inseln besetzt und lässt ihre immer besser ausgerüstete Marine für alle sichtbar regelmässig das weite Seegebiet überwachen. Das Thema wird natürlich auf dem internationalen diplomatischen Parkett diskutiert, unter anderem vor allem in der Assoziation Südostasiatischer Staaten (ASEAN). Peking oder Vietnam freilich beharren auf ihren „historischen Ansprüchen“ und rufen zur friedlichen Beilegung der Konflikte auf. Es ist eine Patt-Situation nicht zuletzt deshalb, weil es im Unterschied zu Europa mit EU und Nato in Asien keine vergleichbaren Organisationen gibt, die rechtlich bindend oder im Konsens solche Konflikte kontinuierlich lösen könnten.
Es ist denn auch kein Zufall, dass im vergangenen November die USA ihre weltweite Interessen-Politik neu definiert haben. Vom atlantischen Raum sind jetzt mit einer Asien-Pazifik-Strategie die Interessen klar in den pazifischen Raum verlagert worden, wirtschaftlich, politisch und vorab militärisch. Amerika – schon immer auch eine pazifische Macht – stösst dabei bei vielen asiatischen Nationen stillschweigend, doch aus Furcht vor China nicht offen, auf ungeminderte Gegenliebe. So haben die USA mit Vietnam, dem alten Feind, heute ein ausgeglichenes, fast schon freundschaftliches Verhältnis.
Härtere nationalistische Töne
Hinter dem Streit im Süd- und Ostchinesischen sowie im Japanischen Meer stehen natürlich handfeste wirtschaftliche Interessen. Die Seefahrt-Route durch die Malakka-Strasse über Singapur und von dort durchs südchinesische Meer gehört zur wichtigsten in der Welt. Ein grosser Teil des Energienachschubs für China und Japan – der zweit- und drittgrössten Volkswirtschaft der Welt – sowie der Gütertransport von Asien nach Europa werden auf dieser Route abgewickelt. Es geht aber auch um reiche Fischgründe sowie - dies vor allem – um vermutete oder bereits entdeckte ergiebige Erdöl- und Gasvorkommen, die zur Disposition stehen. Auf diesem Hintergrund sind die zunehmend härteren nationalistischen Töne der einzelnen Staaten zu interpretieren.
Unverheilte Wunden, eine unbewältigte Vergangenheit und auch alte Ressentiments treten dabei an die Oberfläche der aktuellen Politik. Japan steht dabei im Mittelpunkt. In Südkorea wird mit Vehemenz gegen die alte Kolonialpolitik der Japaner demonstriert. Noch ist die brutale, menschenverachtende Annektierung Koreas als Kolonie durch Japan von 1910-1945 nicht vergessen, zumal sich Japan nie wirklich und in aller Form für die begangenen Gräueltaten entschuldigt hat. Dasselbe gilt für das Verhältnis von China zu Japan. Das Reich der Mitte hat unter den Japanern von 1931-1945 unsäglich gelitten. Wiederum ohne formelle, rechtlich bindende Entschuldigung von Tokio.
Chinesische Japan-Aversion
Der Anti-Japan-Reflex in China ist deshalb genuin und nicht – wie oft in den westlichen Medien kolportiert – von Partei und Regierung gelenkt. Freilich gesellt sich zur Japan-Aversion in China noch etwas hinzu. Es ist das Trauma der Zeit zwischen 1841 und der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Es ist – wie bereits chinesische Primarschüler lernen – die „Zeit der Schande und Erniedrigung“ durch die westlichen Imperialisten und Japan.
Jetzt, wo China langsam aber sicher international wieder einen Spitzenrang einzunehmen beginnt, ist es nicht verwunderlich, dass sowohl Chinesinnen und Chinesen als auch Regierung und Partei stolz auf den Wiederaufstieg der Nation sind. Sozialismus, Kommunismus und Maoismus sind in der breiten Bevölkerung längst nicht mehr Leitwerte. Patriotismus und Nationalismus sind an die Stelle getreten. Für die allmächtige Kommunistische Partei Chinas ist das nicht ganz unproblematisch. Der Übergang nämlich von berechtigtem Nationalstolz – zum Beispiel an den Olympischen Spielen in Peking 2008 oder der Weltausstellung in Schanghei 2010 – zum Chauvinismus ist fliessend und gefährlich. Die Frage für die Mächtigen lautet: Wie können spontane Demonstrationen kontrolliert werden? Wo genau ist die Linie zwischen berechtigtem Zorn und Staatsräson zu ziehen?
Auffallend ist, dass das offizielle China trotz wirtschaftlichen und auch politischen Erfolgen nur allzu oft noch immer gereizt und nervös reagiert auf jegliche, auch berechtigte Kritik aus dem Westen und zumal auf die China-Berichterstattung der westlichen Medien. Mehr Gelassenheit Pekings im internationalen Ambiente wird mithin ein sicheres Zeichen sein, dass das Reich der Mitte endgültig zu einer Grossmacht geworden ist.