Die Ukraine braucht dringend mehr Flugabwehrsysteme gegen den mörderischen Beschuss von Städten und Infrastrukturanlagen durch russische Raketen und Bomben. Der deutsche Verteidigungsminister Boris Pistorius hat angeregt, dass die Schweiz in der Warteschlange für bestellte US-Patriot-Flugabwehrbatterien der Ukraine den Vortritt lassen könnte. Einige helvetische Politiker argumentieren dagegen. Sie halten sich an das egoistische Sankt-Florian-Prinzip.
Die Schweiz hat 2022, entscheidend beeinflusst vom russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine, die Beschaffung von US-Flugabwehr-Batterien beschlossen. Die Kosten werden auf 2,2 Milliarden Franken veranschlagt. Eine Reihe anderer Länder in Europa verfügen bereits über dieses ständig modernisierte und als besonders effizient geltende Abwehrsystem. Doch die Nachfrage ist seit dem Beginn des Ukraine-Krieges und der als alarmierend empfundenen Bedrohungslange markant gestiegen. Es gibt eine längere Käufer-Warteschlange.
Unter dem Eindruck der verzweifelten Hilferufe aus der Ukraine nach mehr Abwehr-Waffen zum Schutz gegen die pausenlosen russischen Luftangriffe hat der deutsche Verteidigungsminister Boris Pistorius die Idee lanciert, dass westliche Länder, die das amerikanische Patriot-Abwehrsystem bestellt haben, in der entsprechenden Warteschlange der Ukraine den Vortritt lassen sollten. Pistorius hat diese Idee in der vergangenen Woche erneut gegenüber der schweizerischen Aussenministerin Viola Amherd bei deren Besuch in Berlin zur Sprache gebracht.
Sinnvoller Vorschlag des deutschen Verteidigungsministers
Mit Rücksicht auf die bekannten schweizerischen Neutralitätsbedenken verknüpfte er den Vorschlag mit einer interessanten Variante: Die Schweiz sollte die vorgesehene Lieferung von Patriot-Systemen den Deutschen überlassen. Dadurch könnte Berlin, das die Ukraine bereits drei Patriot-Batterien zukommen liess, eigene Lücken füllen und gleichzeitig der Ukraine weitere Abwehr-Einheiten zur Verfügung stellen. Die Ukraine verfügt bisher nur über vier Patriot-Systeme – viel zu wenig, um Frontstädte wie Charkiw wenigstens halbwegs vor den russischen Attacken aus der Luft zu schützen.
Die Schweizer Bundespräsidentin und Verteidigungsministerin antwortete auf den Vorschlag ihres deutschen Amtskollegen ausweichend. Die Regierung in Bern habe sich mit diesem Positionsabtausch in der Patriot-Warteschlange noch nicht befasst, aber sie bleibe zu diesem Thema mit dem Berliner Kollegen im Gespräch. Man kann also nur hoffen, dass der Bundesrat seinen Entscheid nicht auf die lange Bank schiebt. Eine schnelle Zustimmung drängt sich auf – und lässt sich sowohl mit politischen, moralischen und völkerrechtlichen Argumenten begründen.
Keine stichhaltigen Gegenargumente
Politisch und moralisch liegt es auf der Hand, dass selbst ein offiziell neutrales Land wie die Schweiz einem so infam überfallenen Land wie der Ukraine bei der Beschaffung von Abwehrwaffen zumindest den zeitlichen Vortritt überlässt. Solange die Ukraine sich gegen den russischen Angriffskrieg verteidigen kann – was sie seit mehr als zwei Jahren trotz grauenvoller Kosten einigermassen erfolgreich tut – schützt sie auch andere Teile Europas, inklusive die Schweiz, vor einem weiteren möglichen Vormarsch von Putins Eroberungsmaschinerie. Patriot-Systeme sind überdies, was niemand bestreitet, reine Abwehrwaffen. Moralische Gründe, der Ukraine eine schnellere Belieferung mit diesen Verteidigungsmitteln vorzuenthalten, dürften schwer zu finden sein.
Gibt es stichhaltige neutralitätspolitischen Vorbehalte? Nein. Artikel 51 der Uno-Charta, die auch die Schweiz unterschrieben hat, hält glasklar fest, dass jedes Land das Recht zur Verteidigung gegen einen Angreifer hat. Dieses Recht kann ausdrücklich auch kollektiv ausgeübt werden, also unter Mithilfe von anderen Ländern. Es liegt deshalb an der Schweiz zu entscheiden, ob sie sich beim Thema Patriot-Warteschlange auf diesen Uno-Grundsatz berufen oder sich hinter dem Neutralitätsdogma verstecken will.
«Heiliger Sankt Florian»
Ungeachtet dieser bei nüchterner Betrachtung ziemlich eindeutigen Entscheidungslage haben sich nach Amherds Besuch in Berlin sofort helvetische Politiker gemeldet, die schwere Bedenken gegen eine Zustimmung zu dem von Pistorius vorgeschlagenen «Patriot-Deal» erhoben. So erklärte der Urner FDP-Ständerat Josef Dittli knapp und kurzsichtig, man brauche die Patriot-Systeme selber und zwar möglichst schnell, weil die Schweiz fast keine Abwehrmittel gegen Angriffsraketen längerer Reichweite besitze. Das erinnert an das alte Spottlied vom heiligen Sankt Florian, den die braven Leute bei der Feuersbrunst anflehen: «Lass unsere Häuser stan, zünd lieber andre an.»
Dass eine schnellere Ausrüstung der Ukraine mit dieser Abwehrwaffe auch die Bedrohungslage für die Schweiz vermindern würde, wird dabei ausgeblendet. Oder glauben solche Stimmen im Ernst, die Schweiz könnte aus westlicher oder südlicher Richtung mit Raketen angegriffen werden, wenn man in der Patriot-Warteschlange zugunsten der Ukraine einen Schritt zurücktreten würde?
Eine Frage der Glaubwürdigkeit
Nicht zu bestreiten ist, dass es bei dieser Patriot-Diskussion zunächst gar nicht um reale Lieferungen von Abwehrwaffen geht. Es geht hier primär um politische und diplomatische Glaubwürdigkeit. Die von der Schweiz bestellten Patriot-Systeme könnten nach bisherigem Informationsstand frühestens ab dem Jahr 2026 geliefert werden. Bis dann könnte, so ist zu hoffen, auch der Ukraine-Krieg zu Ende sein – und hoffentlich zu Bedingungen, die für die Ukraine akzeptabel sind. Wenn dies der Fall sein sollte, wird auch die Frage der Patriot-Lieferungen keine so dringliche Rolle mehr wie heute spielen.
Doch für die Schweiz bleibt die Frage der Patriot-Beschaffung im Zusammenhang mit der vom deutschen Verteidigungsminister vorgeschlagenen verzögerten Lieferung dennoch von aktuellem Gewicht. Die Zustimmung aus Bern zu einer solchen Lösung könnte auch andere europäische Länder, die diese Abwehr-System bestellt haben, dazu motivieren, der Ukraine den Vortritt einzuräumen. Der Bundesrat könnte sich dabei durchaus auf den Präzedenzfall einer vergleichbaren Einigung berufen: Im vergangenen Jahr hatte er nach quälend langem Hin und Her dem Verkauf von 25 Leopard-2-Panzern an die deutsche Herstellerfirma zugestimmt. Die Panzer sollten nicht an die Ukraine geliefert werden, sondern Lücken füllen, die bei Nato-Staaten durch eigene Lieferungen an die Ukraine entstanden sind.
Es ist nicht einzusehen, weshalb der Bundesrat in Sachen Patriot-Flugabwehr nicht eine ähnlich kreative Lösung zugunsten der schwer bedrängten Ukraine akzeptieren sollte. Und dies ohne langwierige Verzögerungsmanöver und Rücksichten auf die ohnehin kompromissunwilligen Neutralitäts-Fetischisten im Blocher-Schlepptau.