Bellini, der sehr erfolgreich mit dem hoch professionellen Librettisten Felice Romani zusammenarbeitete, hatte sich nach dem Misserfolg seiner Oper «Beatrice di Tenda» (1833) in Streitigkeiten von diesem getrennt und sich für sein neues Pariser Opernprojekt mit dem dichtenden Grafen Carlo Pepoli eingelassen, der in der dramatischen Kunst bislang wenig Erfahrung hatte. Der im Pariser Exil lebende Bologneser hatte sich eher als Sonettschreiber denn als Experte fürs dramatische Fach einen Namen gemacht.
So kam es denn auch, dass der für die neue Oper des inzwischen europaweit bekannten jungen Bellini (geboren1801) gewählte Stoff zwar wohl eine Liebesgeschichte enthielt, welche Menschen zu Tränen zu bewegen vermochte. Vollkommen unbeleuchtet und unterentwickelt als eine bloss schemenhafte Kulisse blieben jedoch die historischen Ereignisse, die den Stoff für das melodramatische Werk liefern sollten.
England während des Bürgerkrieges
Es ging um die Zeit des Stuart-Königs Charles I., dessen Truppen vom puritanischen Oliver Cromwell und seinen republikanisch gesinnten Anhängern 1644 geschlagen wurden. Nach einer neuerlichen Erhebung der königstreuen Truppen wurde Charles I. 1648 gefangen gesetzt, im Jahr darauf zum Tode verurteilt und vor dem Banqueting House in London enthauptet. Die konkreten Ereignisse in England spielen in der Oper kaum eine Rolle – der Plot begnügt sich damit, dass zwei verfeindete kämpferische Gruppen einander gegenüberstehen und für effektvolle chorische Auftritte und gefühlvolle Ensembles sorgen. Ein Kommentator unserer Zeit schrieb dazu: «Die wenig plausible Geschichte von <I Puritani> ist kaum ernst zu nehmen. Es mangelt ihr an Glaubwürdigkeit, und das schwache Handlungsgerüst strotzt von wirkungslosen Motiven.»
Trotzdem wurde die Oper in Paris und später weltweit ein riesiger Erfolg. Bellini scheute sich nicht, verändernd im Text einzugreifen. Er holte sogar Rat bei seinem Förderer Rossini. Das Pariser Publikum erkannte die musikalisch herausragenden Qualitäten des Werkes auf Anhieb. Das «Théâtre Italien de Paris» holte sich für die Uraufführung die erste Liga damals beliebter Stars der Singkunst. Bereits 1835 kam die Oper an der Mailänder Scala zur Aufführung. Im Lauf der folgenden Jahrzehnte ging Bellinis letzte Oper rund um den Globus. Der Meister starb 34-jährig bereits im September 1835 an einer Darminfektion. Doch auf diese letzten Sternstunden sublimer Belcanto-Kunst wollten damals wie heute Opernfreunde nirgends auf der Welt verzichten.
«I Puritani» ist der glänzende Beweis dafür, dass Oper auch dort Triumphe feiert, wo die dramatische Anlage und die textliche Unterlage zweitklassig bleiben. Alles dominiert letztlich der Zauber der Musik. Wir sind ergriffen und fühlen uns beglückt.
Was ist Belcanto?
Es ist nicht leicht, dies in wenige Worte zu fassen. Es ist eine in der italienischen Operntradition entstandene Gesangstechnik, die etwas mit melodiösem Legato, mit Stimmdynamik, mit Beweglichkeit des Stimmorgans, mit Tonstütz- und Atemtechnik, mit Modulationen und Leichtigkeit der Verzierungen, mit einer Ästhetik fliessenden Wohlgefühls zu tun hat. Entstanden bereits in der Barockzeit, wurde diese in der frühen italienischen Romantik zum Markenzeichen von Vertretern der Tonkunst, die ihrem Publikum einen so virtuosen wie «ekstatischen» Lyrismus musikalischer Gefühle bieten wollten.
Ihren Höhepunkt an Raffinement erreichte die Belcanto-Kunst in Italien in der Romantik mit den Opern von Rossini, Bellini und Donizetti. Diesen Komponisten gelang es, bei den damaligen Gesangskünstlern und -künstlerinnen die umwerfendsten Schattierungen und Nuancen in der Stimmführung hervorzuzaubern, zumal ein alle Seligkeiten des Himmels suggerierendes Pianissimo, vor dem das Publikum geradezu in die Knie ging. Zu den perfekten Beherrscherinnen der Belcanto-Technik gehörten im 19. Jahrhundert Namen wie Adelina Patti oder Maria Malibran, im 20. Sängerinnen wie Joan Sutherland oder Montserrat Caballé, im 21. könnte man Cecilia Bartoli oder Sandrine Piau als Virtuosinnen der Belcanto-Tradition bezeichnen. In New York hat im Jahr 2007 auch Anna Netrebko als Elvira bewiesen, dass sie eine bezaubernde Belcanto-Sängerin sein kann.
Bellinis bekannteste Verkörperungen von weiblichen Belcanto-Figuren sind seine Amina in «La sonnambula» (März 1831), seine grossartig die eigene Schuld einsehende Priesterin «Norma» (Dezember 1831) und eben unsere Elvira aus Bellinis letzter Oper «I Puritani». Mit «puritanisch» hat Belcanto sicher insofern etwas zu tun, als es bei ihm darauf ankommt, das Vibrato der vortragenden Stimme in puritanischer Reinheit diskret und kaum wahrnehmbar einzusetzen. Daraus ergibt sich zwangsläufig, dass Belcanto-Zauber eher bei jungen unverbrauchten Stimmen zu erleben ist als bei älteren, dramatisch schwer und im Vibrato unkontrolliert gewordenen Rampen-Primadonnen, die immer noch der Ansicht sind, sich in fragilen jungen Mädchenrollen dem Publikum präsentieren zu müssen.
Zwischen Liebe und Wahn
Nach dem Willen ihres Vaters soll Elvira Riccardo (Bariton), den zu den Puritanern gehörenden Oberst der Palasttruppen, ehelichen. Sie aber liebt Arturo (Tenor), einen Kavalier und Anhänger der Stuarts. Ihrem klugen Onkel Sir Giorgio ist es zu verdanken, dass der Vater Einsicht zeigt und Elvira die Wahl ihres Bräutigams überlässt.
Arturo, der seine Braut herzlich liebt, will aber kurz vor der Hochzeit die inkognito unter den Puritanern weilende Frau des hingerichteten Königs vor ihrer eigenen Verurteilung retten und entflieht mit ihr aus den Händen der Puritaner. Elvira missversteht diese edle Gesinnung des Kavaliers Arturo und hält sie für einen kurz vor der geplanten Vermählung begangenen Treuebruch. Ihre Verzweiflung darüber raubt ihr den Verstand, sie verfällt in einen Wahn, in welchem sie die Menschen ihrer eigenen Umgebung nicht mehr erkennt.
Im Zentrum des 2. Aktes steht die Szene, in welcher Elvira wahnbefangen durch den Palast irrt. Sie enthält eine der grossen «Wahnsinnsarien» der Operngeschichte, die in Donizettis «Lucia di Lammermoor» (ebenfalls 1835) und später in Verdis «Macbeth» (1847) ihre Fortsetzung und Weiterentwicklung finden. Im 3. Akt wird sich alles klären: Arturo war nicht untreu, Elvira findet den Verstand wieder, die Puritaner besiegen zwar die Royalisten, die aber in einer allgemeinen Amnestie durch Cromwell und das Parlament begnadigt werden. Ein Happy End, wie es das sonst beinah nur in komödiantischen Opern nach Auflösung aller Verirrungen und Missverständnisse gibt.
Trauer und Tränen
Die Wahnsinnsszene aus «I Puritani» allerdings gehört zu den absoluten Höhepunkten der Belcanto-Geschichte und Elviras Arie «Qui la voce sua soave mi chiamava – Hier rief mich seine sanfte Stimme» nach den Worten des Bellini-Kenners Herbert Weinstock «zu den gefühlvollsten Melodien, die je komponiert worden sind».
Noch hinter der Bühne hören wir Elviras Stimme: «Gebt mir die Hoffnung wieder oder lasst mich sterben.» Auf der Bühne sind bereits Sir Giorgio und Riccardo, welche die Erscheinung der gequälten Elvira beobachtend kommentieren. Sie erscheint mit aufgelöstem Haar, jeder Blick und jede ihrer Bewegungen offenbaren den Wahnsinn. «Schwor er mir nicht ewige Treue? Und floh er vor mir nicht auf und davon?» Soll sie nie mehr die Freude innigster Verbundenheit mit einem Geliebten erfahren? Ohne diese Hoffnung und Aussicht will Elvira nur noch sterben.
Im Wahn glaubt sie, in Giorgio Arturo zu erkennen. Von ihm verlangt sie, er solle sie sofort zur Hochzeit, zu Tanz und Gesang, zum Fest und zur Feier führen. Dann erblickt sie Riccardo, ergreift seine Hand, glaubt, dass er weint, meint erneut, Arturo vor sich zu haben. Sie sieht den Mond am Himmel, will mit dem Geliebten fliehen: «Ach eile doch, Arturo, und kehre zu Deiner Elvira zurück.» Danach zeigt Elvira, zwischen Wahnbildern von Glück und Verlustängsten schwankend, Zeichen von Erschöpfung. Die beiden Männer fordern sie auf, zur Ruh’ zu gehen. «Die Nacht verbreitet bereits ihren dunklen Schrecken.» Es ist die dunkelste Nacht, um die es hier geht und welche die beiden Männer in Elvira spüren: die einer verzweifelten Liebe.
Von der Uraufführung in Paris berichtet man, dass während Elviras Wahnsinnsszene viele Zuschauer in Tränen ausgebrochen seien. Paris wusste auf einmal: Man geht in die Oper nicht nur, um sich zu vergnügen, sondern neuerdings auch, um von Herzen weinen zu können.
Wir hören hier die berühmte Szene einer der begnadetsten Belcanto-Stimmen des 20. Jahrhunderts: Montserrat Caballé. Es handelt sich um eine Studio-Aufnahme aus dem Jahr 1979, mit Ricardo Muti feinfühlig begleitend am Pult des Philharmonia Orchestra. Den Riccardo singt Matteo Manuguerra, Sir Giorgio hat die Stimme von Agostino Ferrin.