Chantal Galladés Parteiwechsel hat im März 2019 einigen Staub aufgewirbelt. Die SP ist konsterniert, die GLP freut’s. Dabei ist dieser Vorgang zeitgemäss und Zeichen der Wandelbarkeit von Parteien und Personen.
Wir erleben es jeden Tag. Im Internet-Zeitalter geht alles schneller als früher. Nicht, dass das a priori ein Vorteil wäre – doch eine Tatsache bleibt es. Auch in der Politik geht es hektischer zu als früher. Was letztes Jahr noch im Fokus der Parteipolitik stand, ist ein Jahr später nicht mehr der Rede wert.
So, wie sich die Klimadebatte sozusagen über Nacht weltweit in die Schlagzeilen katapultiert hat, so mussten sich die Parteileitungen ebenso rasch fragen, ob ihre bisherige Haltung noch opportun sei. Der Druck von aussen, in diesem Fall von der Jugend, hatte sie auf dem falschen Fuss erwischt. Gemeint ist die FDP.
Umgekehrt wurde bei der SP in Sachen Rahmenabkommen völlig überstürzt die bisherige Haltung liquidiert. Es war dem polarisierenden Gewerkschaftsführer Paul Rechsteiner noch einmal gelungen, mit seiner fundamentalistischen Haltung die Partei auf seine Seite zu ziehen. Der Schaden ist angerichtet, die Folgen werden sich zeigen.
FDP für Klimaschutz
Wenn die FDP-Präsidentin sozusagen über Nacht einen 180-Grad-Kurswechsel vollzieht und sich für eine Verschärfung des CO2-Gesetzes ausspricht, dann reagierte sie auf eine überraschende, unvorhersehbare Veränderung in der Problemgewichtung des „Volkes“. Zwar spricht die ganze Welt seit Jahren von der Klimaerwärmung, doch wenn es um konkrete, einschneidende Massnahmen zur Bekämpfung ging, flüchteten sich die Parteien in Ausflüchte und Worthülsen. Jetzt ist es vorbei mit dieser Vernebelungstaktik. Die Jugend verlangt Taten, völlig zu Recht.
Petra Gössi hat dies erkannt. Nicht so ihr Parteifreund Christian Wasserfallen, der am konservativ-rechtsbürgerlichen Flügel der FDP politisiert. Der kernenergiefreundliche Berner Politiker tritt seit Jahren an Ort und will nicht wahrhaben, dass sich die Welt verändert.
Jetzt ist die FDP gespalten zwischen jenen, die eine umweltpolitische Tempoverschärfung begrüssen und den andern, die sich immer noch in einem Weltverständnis aus dem letzten Jahrhundert bewegen. Wird sich Gössi durchsetzen, wird sich die FDP Richtung Zukunft bewegen? Wenn nicht, wäre es eine verpasste Chance.
SP gegen Rahmenabkommen
Gehörte die SP während Jahren zur europafreundlichen Seite, so schwenkte sie mit ihrem ideologisch motivierten Entscheid gegen den EU-Rahmenvertrag – eingeflüstert notabene durch den als Hardliner agierenden Gewerkschaftsführer Paul Rechsteiner – zur Gegnerseite über. Interessanterweise hat da eine umgekehrte Entwicklung stattgefunden: Nicht auf Druck von aussen, sondern vom inneren Kreis der Partei-Ideologen provoziert, wird sich nun zeigen, ob das Thema Rahmenabkommen nach diesem 180-Grad-Perspektivenwechsel auch hier die Parteiwelt spaltet: Hier der sozialliberale Flügel, dort die gewerkschaftshörigen Bremser – diese internen Fronten zwischen Offenheit und Abschottung widerspiegeln eine sich rasch veränderte Politumgebung. Wer sich in die Fänge der Hardliner-Ideologen begibt, wird verlieren. Auch das wäre eine verpasste Chance.
Den Zug verpasst
Generell lässt sich feststellen, dass die politischen Parteien mit ihren Zielen und Parolen in einem relativ engen Korsett operieren. Sie wollen sich ja profilieren, für dies oder jenes stehen – und nehmen in Kauf, dass diese Auslese immer nur fragmentarisch bleibt. Sie entscheiden sich für ein oder zwei Tortenstücke und ignorieren damit den Rest der Torte.
Wenn die Weltpolitik (auch die CH-Politik) ein Ganzes bildet, ist eine solche Taktik brandgefährlich, ja eigentlich nicht mehr zeitgemäss. Wenn sich Schweizerinnen und Schweizer als Teil des Welttheaters verstehen, ergibt sich daraus, dass uns die grossen Umwälzungen, die abrupten Kursänderungen, die Krisen und gegenseitigen Drohungen der World-Leaders sehr direkt tangieren. Die Tempoerhöhung dieses politischen Wechselbads zwingt uns zu einer höchst flexiblen Lagebeurteilung. Auch hier gilt: Die Prioritäten ändern sich viel rascher als früher, und wer dies zu spät realisiert, verpasst den Zug.
Der moderne Mensch
Hand aufs Herz: Der ganzheitlich denkende und handelnde Mensch lässt sich nicht kategorisieren in Links oder Rechts, schon gar nicht in staats- oder marktfreundlich.
Er sympathisiert mal mit liberalen, ein anderes Mal mit regulatorischen Ideen. Ein freiheitlich gesinnter Mitbürger kann sich aus verantwortlicher Einsicht für staatliche Eingriffe in einen trägen Markt entscheiden. Zurzeit sind es Klimawandel, CO2-Abgaben, AHV-Krisenlage oder EU-Rahmenabkommen, die starre Parteiempfehlungen obsolet werden lassen.
Damit sind wir bei den diversen Parteipräsidenten und Parteiprogrammen, die gebieterisch nach flexibler Ausrichtung rufen. Wenn das nicht geschieht, dann wird es eben für viele Parteimitglieder ungemütlich, ja sie mögen gar einen Parteiwechsel ins Auge fassen. Gefragt sind zurzeit Parteien, die nicht dogmatisch oder ideologisch politisieren.
Politische Beweglichkeit
Wenn, um auf den Fall Galladé zurückzukommen, SP-Führungskräfte jetzt diesen Schritt als „himmeltraurig“ kommentieren und ihr von „Irreführung der Stimmberechtigten“ sprechen, kann daraus geschlossen werden, dass sie die oben beschriebene Tempoverschärfung und Akzentverschiebung einer globalisierten Welt und die daraus resultierenden Anforderungen an eine offene Politik nicht wahrnehmen wollen. Hier zeigt sich exemplarisch der Unterschied zwischen ideologischer, verharrender Parteipolitik und lösungsorientierter, faktenbasierter Aufbruchstimmung in einer Parteileitung.
Es wird damit auch der Graben sichtbar, der unser Land spaltet. Hier jene Menschen, die eine freundschaftliche, kooperative Haltung zur EU befürworten, weil sie sich zukünftige Szenarien der Zusammenarbeit (für unsere Jugend) vorstellen können. Dort jene vergangenheitsorientierten Kreise, die in der EU eine feindliche Macht sehen, die unsere Freiheit und unser Selbstbestimmungsrecht aushebeln möchte, und die sie deshalb unerbittlich bekämpfen.
Es zeichnet sich ab, dass von engagierten Politikerinnen und Politikern zukünftig ein Parteiwechsel vermehrt als Ultima Ratio aus diesem Interessenkonflikt gewählt werden dürfte.