Das Emirat Qatar steigt aus seiner Rolle als Vermittler um eine Waffenruhe in Gaza aus. Das Emirat reagiert damit auf die Verschärfung der geopolitischen Lage im Nahen Osten, die vor allem die Golfstaaten und den arabisch-iranischen Gegensatz berührt. Qatar, das inmitten der Verwerfungszone zwischen dem arabischen und dem iranischen Block liegt, sieht sich gezwungen, seine parteiische Neutralität, mit der es seine Vermittlungsdiplomatie begründete, grundsätzlich zu überdenken.
Offenbar sieht Qatar seine Rolle als diplomatische Drehscheibe und die Sicherheitspartnerschaft mit den USA durch die Obstruktionspolitik der Hamas massiv gefährdet. Zudem ist die zunehmende Iranisierung der Hamas für das Emirat zu einem gravierenden Rechtfertigungsproblem geworden. Auch die drohende militärische Konfrontation mit dem Iran dürfte eine Rolle gespielt haben. Angesichts der Tatsache, dass die USA in Qatar ihren grössten Militärstützpunkt in der Region unterhalten, hat für das Emirat die Sicherheitspartnerschaft mit den USA Priorität, die es nicht durch eine offene Unterstützung der Hamas gefährden will. Zudem ist die Entscheidung Qatars insofern konsistent mit der bisherigen Politik des Emirats, als das Emirat schon seit mehreren Jahren den Einfluss der Netzwerke der Muslim-Bruderschaft und damit auch der Hamas massiv begrenzt hat. Natürlich kann die Entscheidung der emiratischen Regierung auch als proaktive Reaktion auf die Wiederwahl Trumps verstanden werden. So betont die Führung in Doha, dass Qatar 2012 erst auf Initiative der USA die Rolle des Vermittlers übernommen habe. Möglicherweise will Qatar bei der sich abzeichnenden Neuausrichtung der US-Nahostpolitik durch Trump nicht die Rolle des Zaungastes einnehmen, sondern zu einem gleichberechtigten Akteur neben Saudi-Arabien, den Golfstaaten und Israel aufsteigen.
Vermittlung als Kapital
Die Vermittlerrolle Qatars ist nicht zu unterschätzen. Immerhin hatte die Regierung in Doha bisher die Möglichkeit, direkt auf die Auslandsorganisation der Hamas, deren wichtigste Kader nach wie vor in Doha leben, Einfluss zu nehmen und damit auch die informellen Fäden nach Gaza in der Hand zu halten. Ohne Qatar dürfte es schwierig werden, die Verhandlungen in der bisher gewohnten Form fortzusetzen.
Vermittlung bildet eines der Kapitalien, mit denen sich das Emirat Qatar zu einem Ausnahmestaat machen möchte. Daneben sind der Sport, die mediale Öffentlichkeit und die öffentliche politische Kultur des Islam weitere wichtige Kapitalien. Die Vermittlerrolle ist für Qatar entscheidend. Qatar wollte die Rolle eines neutralen Staates im Nahen Osten einnehmen und damit eine ähnliche Funktion wie die Schweiz oder Österreich erfüllen. Diese Rolle bezieht sich nicht nur auf die Verhandlungen mit der Hamas, sondern generell auf die komplizierten geopolitischen Verhältnisse, die durch den iranisch-arabischen Gegensatz entstanden sind.
Eine andere Neutralität
Die Tatsache, dass das Emirat nun seine Vermittlerrolle in Bezug auf die Hamas aufgegeben hat, kann auch so verstanden werden, dass das Emirat seine «Neutralität» wegen der drohenden Konfrontation mit dem Iran und seinen Proxies in Libanon, Syrien, dem Irak und Jemen zurückgestellt hat. Qatar ist sich bewusst, dass im Fall eines heissen Kriegs mit Iran auch die US-amerikanische Basis zum Ziel iranischer Raketen werden könnte. Die amerikanische Luftwaffenbasis al-Udaid liegt nur knapp 30 km südwestlich der Hauptstadt Doha und beherbergt fast elftausend amerikanische Truppenangehörige und Zivilpersonal, zudem befinden sich in der 1996 gegründete Basis auch Einheiten der Luftwaffe von Qatar sowie britische und australische Einheiten. Die Befürchtungen, dass Qatar trotz seiner Bemühungen um Neutralität in den Krieg hineingezogen werden könnte, wachsen noch dadurch, dass Sprecher der iranischen Revolutionsgarden nicht müde werden anzukündigen, dass ein Krieg gegen Israel im Wesentlichen auch ein Krieg gegen militärische Einrichtungen der USA im Nahen Osten sein würde. Damit ist Qatar unmittelbar in die Gefahrenzone gerückt.
Saudi-Arabien im Hintergrund
Noch aber versuchen die Golfstaaten und vor allem Saudi-Arabien sich in der Rolle einer parteiischen Neutralität. Auf einem Sondergipfel der Organisation der islamischen Zusammenarbeit (OIC) in Riad hat der saudische Kronprinz Bin Salman nicht nur Israel scharf kritisiert und damit eine Wiederaufnahme der Normalisierungsversuche in weite Ferne gerückt, sondern in erstaunlicher Offenheit die israelischen Angriffe auf iranische militärische Einrichtungen verurteilt. Zudem telefonierte er mit dem iranischen Präsidenten Mas’ud Peseschkian, der sich für seine Abwesenheit entschuldigte, und schickte den Generalstabschef der saudischen Streitkräfte, Fayyad al-Ruwaili, nach Teheran, um mit dem iranischen Generalstabschef Mohammad Bagheri, der zugleich die Zusammenarbeit mit den Revolutionsgarden unter Hossein Salāmi koordiniert, zu konferieren. Dabei ging es wohl auch darum, Iran die Neutralität Saudi-Arabiens im Falle eines offenen Krieges zwischen Iran und Israel/USA zuzusichern. Dies würde vermutlich bedeuten, dass der saudische Luftraum im Kriegsfall auch für US-Flugzeuge gesperrt würde. Dies würde Qatar vor eine enorme Herausforderung stellen.
Saudische Volten
Die geopolitische Situation im Nahen Osten beginnt sich zu wandeln. Im März 2023 hatte China die Wiederaufnahme der diplomatischen Beziehungen zwischen Saudi-Arabien und Iran vermittelt. Zugleich wurde Saudi-Arabien offiziell eingeladen, der russisch-chinesischen Wirtschaftsallianz der Brics-Staaten beizutreten. Vor der Brics-Konferenz in Kasan, auf der die Neumitglieder offiziell aufgenommen werden sollten, verkündete Russland triumphierend, dass auch Saudi-Arabien beitreten werde. Doch der Kronprinz reiste nicht nach Kasan und zeigte Putin die kalte Schulter. Mit einem Mal hiess es, dass das Königreich – wie auch Argentinien – dieser Allianz nicht beitreten werde. Für eine erste Deutung dieser Volte ist es noch zu früh. Möglicherweise wollen die arabischen Golfstaaten nicht nur ihre Neutralität konsolidieren, sondern selbst einen geopolitischen Pol in der Region bilden. Die Wiederwahl Trumps könnte diese Strategie stärken. Trump hatte ja nicht nur von seinen Friedensdeals in Nahost fabuliert, sondern auch davon, dass die USA unter seiner Führung ihr Engagement im Nahen Osten zurückfahren würden. Daher könnten die Golfstaaten nun eine Option suchen, die ihnen langfristige Sicherheit trotz des Gegensatzes zu Iran bietet.
Für Qatar wäre eine solche Entwicklung nicht unproblematisch. Noch zu gut ist in Erinnerung, wie Saudi-Arabien im Qatar-Boykott 2017–2021 fast die halbe arabische Welt gegen das Emirat aufbrachte und wie das Land nur durch iranische und türkische Stützung den Boykott aussitzen konnte. Nach dem Tauwetter 2021 wurde Qatar wieder in den Kreis der Golfstaaten aufgenommen, musste dafür aber auch deren langfristige strategischen Ziele akzeptieren.
Hamas vor dem Exil
Der Rückzug Qatars aus der Gaza-Diplomatie muss im Kontext dieser geopolitischen Neuausrichtung bewertet werden. Mag sein, dass Qatar die negativen Folgen eines weiteren Engagements für die sich immer weiter iranisierende Hamas als unkalkulierbares Risiko sieht. Derzeit ist nicht absehbar, wer die Rolle Qatars übernehmen kann und ob es überhaupt zu einer Fortsetzung der erneut gescheiterten Gespräche und Verhandlungen kommen wird. Die Türkei kommt hier weniger in Frage, da sich Erdoğan politisch klar positioniert hat. Ob sich die Türkei als Exil für die Hamas-Kader anbietet, ist daher offen. Fraglich ist allerdings, ob die Hamas, die sich politisch weitgehend iranisiert hat, bereit ist, sich einer nationalistischen Politik Erdoğans unterzuordnen. Dies würde voraussetzen, dass einer der bisherigen Vertreter des protürkischen Flügels der Hamas als Chef des Politbüros der Organisation gewählt würde, wofür es derzeit keine Anzeichen gibt. Zudem laufen derzeit Verhandlungen mit Algerien als Verbündeten der russisch-iranischen Achse und Mauretanien, das dem türkischen Politikmodell nahesteht, die ebenfalls als Exil für die Hamas in Frage kommen.
Schlimmste Befürchtungen
Für eine mögliche Wiederaufnahme der Verhandlungen dürfte die Rolle Ägyptens wichtiger werden. Immerhin war der ägyptische Geheimdienst an allen bisherigen Verhandlungsformen beteiligt und verfügt auch über die institutionellen und personellen Voraussetzungen, um diese Vermittlerrolle auszufüllen. Allerdings sind die Beziehungen zwischen Ägypten und der Auslandsorganisation der Hamas so schlecht, dass nicht zu erwarten ist, dass die Hamas Ägypten in gleicher Weise akzeptieren wird wie das Emirat Qatar. Vieles deutet darauf hin, dass der Verhandlungsprozess ohne greifbares Ergebnis ausläuft und dass sich die Hamas auf ein vollständiges Exil vorbereitet. Was dies für die Geiseln bedeuten würde, ist nicht absehbar. Die Hamas war jüngst nicht einmal mehr bereit, einer Waffenruhe im Gegenzug zur Freilassung einiger weniger Geiseln zuzustimmen. Das nährt schlimmste Befürchtungen, nicht nur hinsichtlich der Frage, ob die Geiseln überhaupt noch von Hamas-Einheiten gefangen gehalten werden oder ob sie schon längst zur Beute krimineller Banden geworden sind, sondern auch, wie viele Geiseln überhaupt noch am Leben sind.