Ein Bild aus dem Hochsprung bietet sich geradezu an für die Beschreibung dessen, was die Führung von Deutschlands Sozialdemokraten soeben auf ihrem Sonderparteitag in Bonn hinter sich brachte: Die Akteure kamen der Latte zwar gefährlich nah, haben sie jedoch nicht gerissen. Damit wurde immerhin der Einzug in die nächste Runde geschafft. Konkret: Eine denkbar knappe Mehrheit der Delegierten gab der SPD-Spitze um Parteichef Martin Schulz grünes Licht für Verhandlungen mit der CDU/CSU im Hinblick auf eine Neuauflage der bisherigen gemeinsamen Koalition.
Letztes Wort beim Fussvolk
Die Formulierung „im Hinblick“ ist nicht zufällig gewählt. Denn normalerweise hätte es heissen müssen „mit dem Ziel“. Im vorliegenden Fall wäre das freilich voreilig gewesen. Immerhin lassen der Verlauf des Bonner Parteikonvents, nicht zuletzt aber auch die nach aussen diffundierende Stimmung unter den Genossen im Land zumindest starke Zweifel zu, ob die Basis am Ende auch wirklich die Ergebnisse billigen wird, die von den Ober-Genossen nun den Verhandlungsführern der Unionsparteien abgetrotzt werden sollen – in den kommenden Tagen, vielleicht auch Wochen, möglicherweise sogar Monaten. Schliesslich ist eine allgemeine, die SPD bindende Mitgliederbefragung beschlossen. Das letzte Wort wird demnach beim 450’000-köpfigen sozialdemokratischen Fussvolk liegen.
Bei einer Analyse dessen, was am Ende des mehr als fünf Stunden währenden heftigen Streits und der leidenschaftlichen Debatte im Bonner Kongresszentrum stand, kommt ganz gewiss niemand zu dem Ergebnis, hier sei – mit knappem Ausgang zwar, aber immerhin – Überzeugungsarbeit geleistet worden. Hätte bei der Schlussabstimmung nicht wenigstens die gesamte Parteispitze zusammengestanden, wäre unter den Delegierten selbst diese Mini-Mehrheit nicht zustande gekommen. Nein, am Rheinufer der einstigen Bundeshauptstadt vollzog sich nicht ein Sieg parteipolitischer Vernunft, sondern ein Akt der Verzweiflung.
Zwischen Totalabsturz und Aufstiegshoffnung
Denn immerhin: Die Konsequenzen eines Scheiterns des Leitantrags zur Aufnahme von Koalitionsverhandlungen standen den Teilnehmern schon vor Augen. Den einen erschienen sie als Garantie für einen Totalabsturz in die sozialdemokratische Bedeutungslosigkeit, den anderen als Fanal zu einem neuen Aufstieg aus der gegenwärtigen Trübnis empor zu einer neuen lichtvollen Zukunft. Eine Neuwahl (gleichgültig ob sofort oder erst nach einer Übergangszeit mit einer Minderheitsregierung) wäre sehr wahrscheinlich unausweichlich – mit einem höchst ungewissen Ausgang für die SPD. Zudem wäre dann eines wohl ganz sicher gewesen: Vielleicht von wenigen Ausnahmen abgesehen, hätte ein parteiinterner Sturm nahezu das gesamte gegenwärtige Führungspersonal hinweggefegt.
Diese Aussichten vor Augen, haben Martin Schulz, Andrea Nahles und die übrigen Spitzenleute schliesslich auch aus den eigentlich auf Ablehnung einer neuen Grossen Koalition gepolten Reihen noch rettende Stimmen ergattern können. Man darf auch ruhig sagen: Man hat sie sich erkauft. Mit der Zusage nämlich, bei den jetzt anstehenden Treffen (Andrea Nahles: „Wir werden verhandeln, bis es quietscht“) mit der Union jene sozialen „Leuchttürme“ herauszupressen, die den Genossen so sehr am Herzen liegen.
Mit anderen Worten: Angela Merkel, Horst Seehofer und deren CDU/CSU sollen die Schulz’sche Rechnung begleichen. Nicht nur notorische Schwarzmaler dürften Zweifel anmelden. Korrekturen hier oder dort, ja. Aber einem möglichen 20-Prozent-Regierungspartner dessen 100-Prozent-Parteiwünsche erfüllen – wer mag an so etwas glauben?
Vorboten einer Zeitenwende
Gleichgültig im Übrigen, ob das gegenwärtige Gefeilsche letztendlich zur Fortsetzung der schwarz-roten Bundesregierung führt, oder ob es sich als blosses Theater für die Bürger oder die Medien herausstellen sollte: Eines lässt sich auf alle Fälle ablesen – wir befinden uns politisch an einer Zeitenwende, und die Vorboten sind schon seit Längerem nicht zu übersehen.
Es ist ja verständlich, dass die älteren Leute in Deutschland glänzende Augen bekommen bei der Erwähnung von Namen wie Konrad Adenauer, Carlo Schmid, Franz-Josef Strauss, Willy Brandt, Helmut Schmidt, Karl Schiller. Und tatsächlich waren viele der Redeschlachten im „alten“ Bundestag legendär. Aber diese Politiker hatten halt ganz andere Leben hinter sich; nicht wenige sassen im KZ.
Mittlerweile bestimmen jüngere Generationen das Geschehen – mit anderen Lebensläufen, vielfach im Wohlstand aufgewachsen, aber dennoch auch von Gefahren, Risiken und Herausforderungen umgeben, von denen bis in die 70er-Jahre nicht einmal etwas zu ahnen war. Die Wahrnehmung ist nicht übertrieben, dass sich die traditionellen deutschen Volksparteien in einer Art Treibsand befinden.
Geradezu augenscheinlich hat sich diese Zeitenwende in den vergangenen Tagen dargestellt. Nämlich angesichts der Art und Weise, wie der rhetorisch ausserordentlich begabte 28-jährige Bundesvorsitzende der Jungsozialisten (Jusos), Kevin Kühnert, nahezu das gesamte SPD-Establishment mit seinem – beinahe sogar erfolgreichen – Anti-Grosse-Koalitions-Feldzug in Angst und Schrecken versetzte.
Zumindest in dieser Hinsicht hat die gebeutelte SPD der Union etwas voraus. Denn auch wenn Martin Schulz beim Bonner Sonderparteitag noch einmal die Kurve gekriegt hat, dürfte seine politische Überlebensdauer als Boss der deutschen Genossen überschaubar sein. Aber wenn sich am Horizont wenigstens mögliche Alternativen zeigen, so ist das für eine Partei (noch dazu für eine derart traditionsreiche) schon mal positiv.
Wer steht eigentlich noch wofür?
Und die Bundeskanzlerin? Und die CDU/CSU? Es ist schon recht eigentümlich, dass die Union sowohl die geplatzten Koalitionsverhandlungen mit der FDP und den Grünen als auch das ganze Gezeter für und gegen eine Fortsetzung von schwarz/rot nahezu unberührt überstanden haben. Dabei hängt das Schicksal der CDU-Vorsitzenden Angela Merkel, zumindest mittelbar, eng mit den Vorgängen in der und um die SPD zusammen.
Sollte sie auch dieses Bündnis nicht schmieden können, dann werden Neuwahlen irgendwann unumgänglich sein. Und ob sich CDU und CSU in einem solchen Fall noch einmal hinter der Physikerin aus der Ueckermark versammeln würden, ist höchst ungewiss. Das politische Verfallsdatum auch dieser Kanzlerin lässt sich allmählich ablesen. Aber wer dann? Natürlich gibt es immer für alles und jeden Alternativen. Bloss, so richtig erkennbar sind sie bei Merkel und ihrer Partei nicht.
Das gilt für Personen und Inhalte gleichermassen. Nur halt auch hier nicht bloss für eine Seite. Eine wesentliche Schwäche im Verhältnis zwischen Bürgern und Politik besteht darin, dass es für viele Zeitgenossen zunehmend schwer geworden ist zu erkennen, wer eigentlich noch wofür steht. Dafür tragen die handelnden Personen ohne Zweifel erhebliche Verantwortung. Doch darf man ihnen allein anlasten, dass sich auch die Zeiten und die damit einhergehenden Herausforderungen rasant und dramatisch geändert haben?
Es klingt ja immer gut, wenn (keineswegs nur linke) Sozialdemokraten betonen, die Partei müsse sich wieder ihrer Wurzeln bewusst werden. Aber diese Wurzeln liegen 150 Jahre zurück. Die Bindungswirkung von Begriffen wie Solidarität und Gemeinschaft ist längst verflogen – zusammen mit traditionellen Wirtschaftsbereichen wie Kohle und Stahl und anderen Schwerindustrien. Die heutigen Arbeitnehmer sind IT-fixiert und haben keine Sehnsucht nach schützenden Gewerkschaften.
Suche nach den alten Werten
Im Prinzip vollzieht sich eine ähnliche Entwicklung ebenfalls im politischen Mitte/Rechts-Bereich. Es ist doch kein Zufall, dass – wenn gewiss auch vor dem Hintergrund der Flüchtlingskrise – bei der Bundestagswahl im vergangenen September der CDU und (vor allem) der CSU gleich scharenweise Wähler davongelaufen sind. Und zwar (genau wie bei der SPD) in erster Linie ältere Personen. Die einen glauben ihre proletarischen Wurzeln verraten, die anderen ihre tradierten, konservativen Werte. Bedenklich ist dabei vor allem, dass die Menschen aus beiden Lagern ausgerechnet bei Bewegungen wie der rechtspopulistischen AfD Heimat suchen. Aber unerklärlich ist das eben nicht. In Zeiten tatsächlicher oder auch nur scheinbarer Orientierungslosigkeit klingen einfache Parolen halt überzeugender.
Allerdings liegt bei den Genossen das Problem noch tiefer. Die Partei (und nicht nur der „kritische“ Teil) jammert unentwegt, sie werde vor allem von Merkel dominiert und kujoniert. Ausserdem würden ihre eigenen sozialdemokratischen Leistungen und Erfolge in der gemeinsamen Koalition nicht genügend gewürdigt oder nur unzureichend erkennbar. In Wirklichkeit jedoch ist es die SPD selber, welche die eigenen Meriten kleinredet. Wie das klingt? „Na ja, es stimmt schon, der Mindestlohn geht auf uns zurück. Aber eigentlich wollten wir ja mehr …“ Dieses Muster zieht sich durch Jahrzehnte. Und weil das mit höchster Wahrscheinlichkeit so weitergeht, darf man auf das Mitgliedervotum am Ende der Koalitionsverhandlungen gespannt sein.