In Schule und Unterricht werden immer wieder Wenn-Dann-Beziehungen hergestellt und damit die Lösung aller Probleme versprochen wie zum Beispiel: Je kleiner eine Klasse, desto besser die Lernresultate, oder: Wenn altersdurchmischte Klassen, dann sozialeres Verhalten und effizienterer Unterricht. Dabei geht eines schnell vergessen: Bildungspolitische Massnahmen und Aussagen über Schule und Unterricht beruhen auf normativen Zielvorstellungen wie Weltanschauung oder Zeitgeist, Menschenbild oder Gesinnung. Sie sind nicht beweisbar, sondern nur begründbar – und darum in vielen Fällen widersprüchlich.
Nicht bedachte Nebenwirkungen
Eine solche Wenn-Dann-Korrelation hat momentan am Schweizer Schulhimmel Hochkonjunktur. Sie wird nicht selten apodiktisch und auch eindimensional vertreten. Wenn wir die Hausaufgaben abschaffen, dann erhöhen wir die Chancengleichheit für alle, behaupten manche. Doch so einfach ist es nicht.
Die Bildung kennt das „Gesetz der nicht beabsichtigten Nebenwirkungen“. Formuliert hat es der Philosoph und Pädagoge Eduard Spranger. Kaum jemand beachtet es – so wenig wie die Beipackzettel von Medikamenten. Die Schulen Kriens streichen die offiziellen Hausaufgaben. Sie wollen Chancengleichheit, heisst es. Und die Nebenwirkung? Wer die Hausaufgaben abschafft, schafft sie trotzdem nicht ab, selbst wenn der reguläre Unterricht sie mit sogenannten Lernzeiten kompensiert. Bildungsbewusste Eltern werden mit ihren Kindern weiterhin wiederholen und automatisieren. Sie wissen um den unverzichtbaren Wert des Übens. Kinder aus andern Familien haben diese Chance vielleicht nicht. Die nicht beabsichtigte Folge: Die Schere im Bildungsmilieu öffnet sich weiter. Doch der Schulerfolg darf nicht vom elterlichen Bildungsniveau oder Portemonnaie abhängig sein.
Ohne Wiederholen ist am Ende nichts da
Niemand will das. Darum müsste Sprangers „Gesetz der nicht beabsichtigen Nebenwirkungen“ ernst genommen werden. Alle Kinder haben das Recht auf regelmässiges Üben. Hausaufgaben dienen diesem Ziel, auch wenn die Aussagen über ihren Wert naturgemäss widersprüchlich sind und Gegner sie als „pädagogisches Ritual“ abqualifizieren. (1)
Eines wissen wir alle: Das Hirn ist kein Datenrucksack, das Arbeitsgedächtnis behält Neues nur kurz. Darum verflüchtigen sich viele Informationen dramatisch schnell. Die uralte klassische „Vergessenskurve“ von Hermann Ebbinghaus belegt eindrücklich, dass neu erworbene Lerninhalte zuerst sehr rasch, allmählich jedoch langsamer aus dem Bereich aktiv verfügbaren Wissens fallen. Ohne Repetitionen und ohne vernetzendes Üben in angemessenen Intervallen ist am Ende nichts da.
Üben, Repetieren, Automatisieren
Neues muss aus dem Arbeitsgedächtnis ans „intermediäre“ Gedächtnis weitergleitet, später im Langzeitgedächtnis vernetzt und gesichert werden. Das braucht Zeit. Und die fehlt im überfrachteten System Schule zunehmend. Hausaufgaben als vertiefendes Wiederholen helfen. Sie bremsen oder verhindern den Behaltensverlust und fördern das Können.
Darum bilden Üben, Repetieren von Gelerntem und Automatisieren die wichtigste Grundform von Hausaufgaben; sie ist am meisten verbreitet. Das Wiederholen ist konstitutiv für wirksame Lernprozesse; darum auch muss es Bestandteil des Unterrichts sein. Ohne fleissiges und kontinuierliches Üben geht es nicht. Das hat jede junge Geigerin verinnerlicht, das kennt jeder Junioren-Fussballer. Nur so wird aus dem nerventötenden Gekratze dereinst virtuose Musik, aus dem ungelenken Gekicke hohe Ballkunst. Repetitio est mater studiorum, wissen wir seit den Römern. Wiederholung ist die Mutter der Studien. Klug dosiert, sind die Hausaufgaben ein erprobtes Mittel.
Gute Lehrer wissen um den Wert der Hausaufgaben
Ob Hausaufgaben letztlich wirksam sind, hängt entscheidend von der Art ab, wie sie erteilt werden. Doch es gibt einen positiven Zusammenhang zwischen zielgerichtet formulierten Hausaufgaben und dem Lernerfolg. Darauf verweist John Hattie, der aktuell einflussreichste und meistzitierte Bildungsforscher. Allerdings sind sie auf höheren Schulstufen (7. bis 12.Schuljahr) wirksamer als in der Primarschule. Hier kommt seine Studie auf einen moderaten Effekt. (2)
Auf Hausaufgaben sollte darum nicht verzichtet werden. Richtig und vielgestaltig erteilt, sind sie lernwirksam. Das Argument, sie erhöhten die Chancenungleichheit, verliert erst recht seine Kraft, wenn Lehrpersonen die Hausaufgaben aus dem Unterricht heraus konzipieren und sie mit Üben verbinden. Entscheidend ist das lernfördernde Auswerten und vertiefende Anwenden in der nächsten Lernsequenz. Kurze, klare, konkrete Hausaufgaben, die ohne Elternhilfe zu lösen sind. (3) Darauf haben alle Kinder Anrecht.
Hausaufgaben als Bestandteil des Lernweges
Vom Durchnehmen des Inhaltes zum Verstehen und Können ist ein weiter Weg. Es ist keine asphaltierte Schnellstrasse. Im Gegenteil: ein verschlungener, nicht selten dorniger Pfad bergauf. Üben und Vertiefen gehören zum Lernweg. An ihnen kommt niemand vorbei. Hausaufgaben sind unverzichtbare Stationen dieses Prozesses; je älter die Schüler sind, desto wichtiger werden sie. Darum haben Hausaufgaben ihren Wert, sagt John Hattie – gute Lehrpersonen geben ihnen den entscheidenden Raum, lehrt die Erfahrung.
Sie abzuschaffen bleibt nicht ohne Nebenwirkungen – und erhöht die Chancengleichheit wohl kaum. Bildungsbeflissene Eltern werden mit ihren eigenen Kindern weiterhin wiederholen oder ihnen gar private Nachhilfe ermöglichen. Üben und Automatisieren aber müssen alle Schülerinnen und Schüler. Hausaufgaben schaffen ein Trainingsfeld.
(1) Armin Himmelrath: Hausaufgaben – NEIN DANKE! Warum wir uns so bald wie möglich von den Hausaufgaben verabschieden sollten. Bern: hep verlag ag, 2015.
(2) Hausaufgaben haben eine Effektstärke von d = 0.33; im Vergleich dazu weist altersdurchmischtes Lernen AdL mit 0.04 praktisch keinen signifikanten Lerneffekt aus. Der „erwünschte Effekt“ liegt bei 0.4.
(3) Gem. John Hattie, in: Yannick Nock: So lernen Kinder am besten. Schweiz am Wochenende, 28.04.2018, S. W3.