Im Herbst eines Pontifikats beginnt immer auch der Kampf um dessen historische Einordnung. Bei Franziskus stand lange Zeit die positive Rezeption eines Reformers im Vordergrund, verbunden mit einer aggressiven Ablehnung von Seiten konservativer Kräfte in der Kirche andererseits. Der Religionsjournalist Michael Meier hat dazu eine Gegenthese formuliert und in Buchform veröffentlicht.
Papst Franziskus ist volksnah und spricht eine Sprache der Barmherzigkeit. Aber wenn es um die Sache geht, ist er genauso konservativ und unbarmherzig wie die Päpste vor ihm. Er hält eisern fest an den Vorrechten des geweihten Klerus gegenüber den Laien, an der Unmöglichkeit einer echten Mitbestimmung des Kirchenvolkes, am Ausschluss der Frauen von der Priesterweihe, an der Verurteilung der Homosexualität, auch am Zölibat der Priester «natürlich» und an einer überholten Sexualmoral. Die heissen Eisen der Reformwilligen bleiben überhitzt, ein Ende des Reformstaus ist nicht abzusehen, die katholische Kirche ist nicht reformierbar.
Gut begründete Thesen
Diese Thesen vertritt der vom Tagesanzeiger her bekannte Religionspublizist Michael Meier in seinem neuesten Buch «Der Papst der Enttäuschungen. Warum Franziskus kein Reformer ist» (Herder 2024). Die Belege, die er für seine Thesen anführt, sind vielschichtig und erschlagend, sie betreffen die Lehrschreiben und Synoden des Papstes, seine Personalpolitik und seine Kurienreform und ebenso seine Haltung in der Ökumene und im interreligiösen Dialog. Meier ist ein sorgfältiger Chronist, dem sich Zusammenhänge eröffnen, die dem normalen Zeitungsleser entgehen. Er sieht die grossen Gesten, die das Erscheinungsbild des Papstes von Anfang an geprägt haben und zum Teil bis heute die Öffentlichkeit beherrschen. Doch die Halbherzigkeit, ja Doppelzüngigkeit und die fehlende Stringenz bei der Umsetzung seiner Ankündigungen entgehen ihm nicht. Er legt die Widersprüche im Wirken des Argentiniers auf dem Papstthron schonungslos dar.
Nicht Gefangener, sondern Verfechter des reformbedürftigen Systems
Im Unterschied zu vielen Beobachtern, die noch immer von einem – von der Kurie bedrängten und verhinderten – grossen Reformer schwärmen, scheut Meier sich nicht, die Ambivalenz seiner kecken Predigten zu entlarven: Er fordert Respekt für die Frauen und befördert sie zu höchsten Ämtern, dort aber sind sie immer einem Kleriker unterstellt und bleiben als Frauen von den Weihen ausgeschlossen, angeblich um sie vor einer Klerikalisierung zu bewahren. Franziskus spottet über den «spirituellen Alzheimer» der Kleriker, ändert aber nichts an deren privilegiertem Status. Er geht mit Wohlwollen auf homosexuell empfindende Personen zu, stellt jedoch in Abrede, dass gleichgeschlechtliche Beziehungen ehewürdig sind. Er verspricht, die Kirche zu dezentralisieren, verhindert aber, dass Laien, die an Synoden teilnehmen, eine echte Mitsprache erhalten; grossmehrheitlich gefasste Beschlüsse von Bischöfen und Laien auf der Amazonas-Synode hat er gar missachtet. So ist Bergoglio als Bischof von Rom in der Sicht von Michael Meier nicht primär der Gefangene eines reformbedürftigen Systems, sondern dessen gewiefter Verfechter.
Sein zwiespältiges Verhältnis zu dogmatischen Festschreibungen wirkt sich auch aus auf seinen ökumenischen und interreligiösen Dialog. Während er mit Vertretern der christlichen Orthodoxie sowie mit Juden und Muslimen einen unkomplizierten Austausch pflegt und bemerkenswerte Erklärungen über die Brüderlichkeit aller Menschen vereinbart, harzt der Dialog mit den Protestanten. Wenn etwa beim gemeinsamen Abendmahl die Lehre herausgefordert ist, verlässt ihn der Mut.
Oberster Hirte und oberster Lehrer
An zwei Orten sei der Versuch gewagt, Fäden kritisch weiterzuspinnen. Zum Ersten: Michael Meier hat sein Buch «aus einer westlichen, aufgeklärten und reformorientierten Perspektive» geschrieben (Vorwort), und er hat hohen Respekt vor dem guten Seelsorger Franziskus. Das heisst in Kurzform: Als oberster Hirte macht Franziskus einen guten Job, doch gewichtiger ist, dass er als oberster Lehrer versagt. Wer freilich nicht primär am westlichen Kirchenmodell Mass nimmt, sondern am Rabbi von Nazareth, auf den sich die Kirche beruft, muss einwenden: Jenem war der am nächsten, der sich um die Seelen des Volkes kümmert, nicht der Pharisäer, der die Gläubigen an seinen Lehrsätzen misst. Gewiss lässt sich das Lehramt letztlich nicht vom Hirtenamt trennen, und viele Reaktionäre weichen gerne aus auf die Evangelisierung, um dogmatisch alles beim Alten zu lassen. Aber die Frage, was prioritär ist, muss «westliche» Reformer herausfordern, wenn sie sich genötigt sehen, über die Jahrzehnte stets neu «ihre Reformforderungen wie den Stein des Sisyphos vor sich herzuschieben.»
Die fundamentale Frage heisst doch: Wohin hat sich die katholische Kirche gesteuert, dass sie von ihren Lehrsätzen und ihren Moralverboten her heute zunehmend in Widerspruch gerät zu einer Seelsorge, die ihrem Gründer am Herzen lag? Diesen Widerspruch verkörpert Franziskus als Papst leibhaftig und kommt nicht über ihn hinweg, wie Meier überzeugend nachweist. Nur könnte es sein, dass die Abstufung – wenn nicht gar der Verzicht auf hohe Dogmen zugunsten einer befreienden und inspirierenden Botschaft im Geist des Nazareners und des Poverello von Assisi – reformatorischer ist als deren Umformulierung. Die Glaubenskongregation – die frühere Inquisitionsbehörde und heutige Wächterinstanz – hat Franziskus bei der Kurienreform bereits zurückgestuft. In die gleiche Richtung setzt er auch sonst prophetische Zeichen, lösen kann er den Konflikt nicht. Oder dann eben so, wie mehrere Bischofskonferenzen es nach der «Pillen-Enzyklika» von Papst Paul VI. taten: Sie empfahlen den Gläubigen, ihr Gewissen zu befragen. Und das haben sie in der Folge auch getan.
Der Mann vom Rand der Welt
Ein zweiter Vorbehalt gilt dem Mann aus dem Süden. Gewiss vertritt der Argentinier eine grundlegende Skepsis gegen die westlich-US-amerikanische Weltsicht, historische Erfahrungen liefern ihm auch gute Gründe dafür. Ihm die Konsequenzen daraus als «antiwestlich» anzukreiden, ist fehl am Platz. Jene Kirchen des Südens haben mit ihrer eigenen Kultur und Geschichte genauso Heimatrecht in der Kirche wie das abendländische Christentum der letzten zweitausend Jahre. Gewiss werden auch sie früher oder später von unbequemen Fragen der Aufklärung eingeholt werden und in Europa oder Nordamerika nach Christen Ausschau halten, die sich diesen Fragen wirklich gestellt haben. Aber die Wucht der Geschichte und die Kraft ihrer Kulturen könnte das schön austarierte und mit Begriffen der griechischen Philosophie gestützte Lehrgebäude der Kirche schneller zum Einsturz bringen als vielen lieb ist. Umso mehr als das grandiose Konstrukt vielerorts durch Missbrauchsgeschichten auch im Innern morsch ist.
Das Wahlgremium für den nächsten Papst hat Franziskus zu über zwei Dritteln mit Kardinälen aus Lateinamerika, Afrika und Asien besetzt. Von dort wird darum wohl auch der nächste Papst kommen. Und er wird, schaut man sich mit Meier das Personal an, möglicherweise noch weit konservativer und autoritärer sein als Franziskus. So wird sich das Antlitz der Kirche verändern, vielleicht tiefgründiger als mit angemahnten Reformen.
Der Reiz des Zickzack
Dazu kommen Fragen und Probleme, die sich aufdrängen und eine erweiterte Perspektive erfordern, um die Not der Kirche einzuordnen. In diesem Sinn weitet auch Michael Meier gegen Ende seines Buchs den Blick auf die Bedeutung der Kirchen und Religionen in der heutigen Welt aus. Aber, und da muss man ihm recht geben, es bleibt unbestritten, dass Franziskus sich und die Kirche in der Auseinandersetzung mit der Gegenwart selber blockiert.
Bei der Präsentation des Buchs am 10. April in Zürich war auch der bekannte Vatikanist Marco Politi anwesend. Er gehört zu jenen, die Franziskus als verhinderten Reformer darstellen (etwa in: «Das Franziskus-Komplott», «Franziskus unter Wölfen», «Im Auge des Sturms»). Er weiss als Römer, dass Widersprüche zum Leben gehören, erst recht zum Leben einer weltweiten Institution wie der katholischen Kirche. Er benützt gern ein Bild, mit dem man am Bischofssitz in Buenos Aires ihm gegenüber das Wirken von Bergoglio charakterisiert hat. Seine Gegenthese zu Michael Meier ist nicht logisch-stringent, aber in barocker Manier gut katholisch: Auch der Zickzack-Kurs des Franziskus kann einen Wandel herbeiführen, hinter den die Kirche nicht mehr zurückkann.
Michael Meier: Der Papst der Enttäuschungen. Warum Franziskus kein Reformer ist. 208 Seiten. Verlag Herder, Freiburg im Breisgau 2024