Für seine politische Jungfern-Rede wählte Bilawal Bhutto ein kleines Dorf namens Garhi Khuda Baksh, tief in der Provinz Sindh, an einem kalten Tag Ende Dezember. Es war eine seltsame Ortswahl für den Karrierestart eines jungen Manns, der soeben seine Studien in Cambridge abgeschlossen hatte und in seine Heimat Pakistan zurückgekehrt war. Doch sowohl Ort und Zeit waren sorgsam gewählt. Das Dorf in der Nähe der Stadt Larkhana am Indus beherbergt die Familiengruft des Bhutto-Clans, der Grossgrundbesitzer dieser Gegend und wichtigsten politischen Familie des Landes.
In den Fussstapfen von Benazir Bhutto
Auch der Tag von Bilawals Auftritt war voller Symbolik. Fünf Jahre zuvor, am 27.Dezember 2007, war Bilawals Mutter Benazir Bhutto einem Anschlag zum Opfer gefallen bei einem Wahlkampfauftritt in der Garnisonsstadt Rawalpindi. Der Sympathiebonus hatte Benazirs Volkspartei PPP damals zur grössten Parlamentspartei gemacht, und mithilfe von einigen Regionalparteien konnte sie eine Koalitionsregierung bilden. Der erste Akt des neuen Parlaments war die Wahl des Staatspräsidenten gewesen, auch sie ein Mitleidsakt: Die Vollversammlung wählte Asif Zardari, Frau Bhuttos Witwer und Vater von Bilawal.
Um seine Wahl zu erleichtern, hatte Zardari auf die Führung der Partei verzichtet und sie seinem Sohn Bilawal übertragen. Es war nicht viel mehr als ein opportunistisches Mäntelchen. Kurz nach der Wahl verschwand der Junge wieder nach Cambridge. Er entfloh nicht nur einem dominerenden und kaltblütigen Vater, sondern auch dem Klima des Terrors, dem seine Mutter zum Opfer gefallen war.
Der Auftritt des 24-Jährigen vor zwei Wochen hatte eine zusätzliche Symbolik. Bilawals Mutter Benazir war genau so alt gewesen, als sie die politische Bühne Pakistans betreten hatte, auch sie von einem Studium in England zurückgekehrt, auch sie nach dem gewaltsamen Tod ihres Vaters. Und auch sie hatte das im Islam so wichtige Totenritual gewählt, als sie am Grab des Vaters dessen politisches Erbe übernahm; Zulfikar Bhutto war 1977 vom Militärdiktator Zia al-Haq gehängt worden. Auch dieser politische Mord war übrigens in Rawalpindi ausgeführt worden.
Politisch schwache pakistanische Armee
Nun wurde der Auftritt vor dem Bhutto-Mausoleum auch für Bilawal zum Signal seines Coming-Out. Noch wichtiger als der Ort aber war der Zeitpunkt. Denn die Fünfjahresfeier zum Tod der Mutter konnte auch eine historische Leistung feiern: Es ist das erste Mal in der 65-jährigen Geschichte des Landes, dass Regierung und Staatspräsidentschaft nicht vorzeitig von der Armee gestürzt wurden, sondern die volle Legislaturperiode im Amt geblieben sind.
Inmitten des politischen Chaos‘ dieses Landes (nur der Irak wird weltweit noch stärker von Terrorakten erschüttert als Pakistan) hat sich die Demokratie wunderbarerweise nicht nur halten können, sondern ist gestärkt daraus hervorgegangen. Denn der Terror hat auch offengelegt, dass die Armee ihm weniger gewachsen ist als die Demokratie. Sie konnte Osama bin Laden nicht dingfest machen (und die Amerikaner nicht daran hindern), ebensowenig wie sie den feigen Mordversuch an der Schülerin Malala Yusufzai verhindern konnte. Es waren gewöhnliche Pakistaner, die zu Tausenden auf die Strasse gingen und aus Solidarität für die Vierzehnjährige das Risiko von Selbstmord-Attentaten auf sich nahmen.
In den nächsten Wochen wird das Parlament eine neutrale Übergangsregierung von Technokraten bestimmen; sie soll sicherstellen, dass die Parlamentswahlen ohne parteipolitische Einmischung stattfinden. Als die Wahlbehörde letzte Woche entschied, die Armee zum Schutz der Wahllokale aufzubieten, wurde dies mit Gleichmut aufgenommen; noch vor fünf Jahren wäre es mit dem zynischen Kommentar quittiert worden, die Militärs würden einmal mehr die Wahlen manipulieren, im Namen der (schlecht) bewährten Doktrin der «gelenkten Demokratie». Heute traut man ihr eine Rolle zu, die sich dem demokratischen Primat unterordnet.
Erstarkte Demokratie
Dass die Demokratie in dieser dunkelsten Phase der pakistanischen Geschichte stärker geworden ist, zeigte auch der Auftritt Bilawals. Zum einen, weil er sich überhaupt entschied, den Komfort eines reichen jungen Mannes im Westen aufzugeben und sich in die gefährlichste politische Arena zu werfen, die die Welt heute zu bieten hat; zum andern bewiesen es die Worte, die er in Garhi Khuda Baksh an seine Zuhörer richtete. Sie waren erstaunlich mutig für ein «Muttersöhnchen»: Er geisselte Militärs und Richter dafür, dass die Mörder seiner Mutter immer noch frei herumlaufen. Er wandte sich direkt an die Terrorgruppen: «Wie lange werdet ihr noch unschuldige Menschen umbringen? Ihr könnt eine Malala töten, aber Tausende werden an ihre Stelle treten. Eine Benazir wurde ermordet – Tausende haben sie ersetzt.» Und, an die Adresse der Politiker (und Parteikollegen): «Einige stellen sich wie eine Wand gegen die Terroristen, andere wagen nicht einmal, deren Namen in den Mund zu nehmen.»
Natürlich kann man in der Positionierung der jüngsten Bhutto-Generation, ebenso wie im Timing, einen Schachzug des cleveren Vaters sehen. Es gilt, den aufsteigenden Polit-Star Imran Khan zu neutralisieren, der gerade in der jungen Generation und in den Städten grossen Zulauf erhält; die Hälfte der 180 Millionen Pakistaner sind weniger als 25-jährig, und vierzig Prozent leben in Städten. Da kann es nicht schaden, einen Politiker dieser Generation aufs Podest zu heben.
Opferbereitschaft? Verrücktheit?
Gleichzeitig erschauert man über die fast kriminelle Leichtfertigkeit, mit der ein Vater seinen einzigen Sohn auf ein Schlachtfeld schickt, in dem bereits dessen Mutter, Grossvater und ein Onkel umgekommen sind. Aber Bilawal ist, könnte man einwenden, ein Cambridge-Absolvent, alt und intelligent genug, um selbst die Risiken seiner verschiedenen Optionen abzuwägen. Und falls er dies tut, bleibt uns Zuschauern eigentlich nur diese Frage: Was führt einen begabten jungen Menschen dazu, im Namen von Demokratie und Nation eine Kamikaze-Karriere zu wählen? Ist es Ehrgeiz? Eine dumpfe Fixierung auf tribale Begriffe wie Clan-Ehre und Opferbereitschaft? Todessehnsucht?
Bereits Benazir Bhutto hatte diese fast suizidale Furchtlosigkeit gezeigt. Ich traf sie am 18.Oktober 2007 bei einer Pressekonferenz in Karachi. Am Vorabend war sie aus dem Exil zurückgekehrt. Auf dem Weg vom Flughafen in die Stadt war ihr Konvoi von einem Selbstmord-Täter angegriffen worden. Sie überlebte, weil sie sich kurz von der hohen Bus-Plattform zurückgezogen hatte, um die schmerzenden Schuhriemen zu lockern. Minuten später zündete der Attentäter die Bombe, und die meisten ihrer Gefährten starben. Keine 24 Stunden später zählte «BB» kühl die drei Komplotte auf, die sie in Pakistan erwarteten. Sie sprach über die Hintermänner und deren Motive, als seien es Fallstudien in einem Politologie-Seminar. Zwei Monate später war sie tot – der zweite Komplotteur hatte es geschafft.
Wir mögen über Benazir, oder ihren Sohn Bilawal den Kopf schütteln, ihre Motive in Zweifel ziehen. Aber Hand aufs Herz: Was wäre Demokratie ohne Menschen dieses verrückten Kalibers? Früher hätte man sie «Winkelriede» genannt.