Noch kaum je erlebte Pakistan einen derartigen nationalen Schulterschluss. Die Welle von Empörung und Mitgefühl ob dem Mordversuch an der vierzehnjährigen Malala Yousafzai rollte quer durch die Regionen, von den Stammesgebieten zur Industriemetropole Karachi; sie ergriff Armee-Einheiten und Bazar-Verbände, Gemüseverkäufer und Gesellschaftsdamen; Arbeitgeber und Gewerkschaften protestierten, ebenso wie die politischen Parteien bis tief in islamistische Organisationen hinein; Äusserungen der Betroffenheit kamen nicht nur von Schulkindern, sondern auch vom sonst maskenhaften Armeechef; Staatspräsident Zardari nannte das Mädchen, das sich gegen das Schulverbot der Taliban in ihrem ideologischen Labor im Swat-Tal aufgelehnt hatte, seine «Tochter».
Schweigemärsche statt Gewaltausbrüche
Das letzte Mal, als es einen ähnlichen landesweiten Proteststurm gab, war nach der Erschiessung von Osama Bin Laden vor anderthalb Jahren in Abbotabad. Auch damals gingen im ganzen Land Leute auf die Strasse, allerdings begleitet von Gewalt und Brandschatzung, Autodafés und brennenden US-Emblemen. Dieses Mal waren die einzigen Flammen jene von Kerzen, und Schweigemärsche ersetzten die sich überschlagenden Wutschreie und «Allahu Akbar»-Slogans.
Die unterschiedlichen Formen von Protest und Trauer machen den Blick frei für das Paradox, das dieses Land definiert: Die Al Qaeda-Taliban wurden im Mai 2011 als «Verwaiste» beklagt, nun waren sie die Angeklagten; damals waren sie Opfer, diesmal Täter. Für beinahe jedermann auf der Welt ist es nur ein scheinbarer Widerspruch. Denn die lebensverneinende Ideologie eines Bin Laden geht nahtlos ins kulturfeindliche Saubermachen der Taliban über – die Negation von Schulunterricht und Mädchenerziehung, die Verweigerung jeder Öffentlichkeit für Frauen, und natürlich das Recht auf Selbstjustiz, so automatisch und glatt wie das Schnellfeuerschloss ihrer Kalaschnikows.
Mörder als Held verehrt
Nur Pakistan schien blind zu sein für diesen Widerspruch zwischen zivilisatorischem Anspruch und der Negation zivilisierten Verhaltens. Als im Januar 2011 der Politiker Salman Taseer von seinem Leibwächter ermordet wurde, weil er sich gegen das Todesurteil gegen eine Christin eingesetzt hatte, war es der Mörder, der als Held auf die Schultern gehoben wurde – von Rechtsanwälten notabene. Und noch heute ist der vermutliche Drahtzieher der Attentate von Bombay nicht in Haft, wobei es ist nicht klar ist, ob dessen eingeschränkte Bewegungsfreiheit seinem Schutz oder seiner Kontrolle dient.
Malala Yousafzai hat diese flexible Staatsmoral herausgefordert, schon lange bevor sie am 9. Oktober mit zwei Kopfschüssen schwer verletzt wurde. In ihren Blogs für den Urdu-Dienst der BBC hatte sie, mit erstaunlicher Klarsicht für eine damals Elfjährige, geschrieben: «Falls unsere Generation keine Bleistifte bekommt, werden die Terroristen ihr Gewehre geben.» Und sie schrieb mit Mitgefühl über den 15-jährigen Selbstmord-Attentäter Anis, der sich 2010 in der Nähe des Orts des Attentats gegen sie in die Luft gesprengt hatte. Auch der Talib, der Malala niederstreckte, wurde von ihren Schulkolleginnen als blutjunger Mann geschildert.
Unterdrückung kritischen Denkens
Aber es war ja nicht ihr Einsatz für Schulbildung als solche, die ihr den Hass der pakistanischen Taliban-Organisation TTP einbrachte. «Taliban» heisst ja ironischerweise «Student», und die TTP hat sich nach dem Attentat mit dem Argument verteidigt, sie seien nicht gegen Schulbildung. Sie sind gegen eine Schulbildung, die kritisches Denken fördert, und für jene der islamischen Madrassen: das gebetsmühlenhafte Erlernen religiöser Anweisungen, die systematische Eintrichterung eines Märtyrer-Kults, der die Jungen zu willenlosen Instrumenten ihrer Führungspersonen macht.
Die rund 25‘000 Religionsschulen werden, trotz ihrer Kontrolle durch Organisationen mit Verbindungen zum Terror-Untergrund, vom Staat immer noch finanziell unterstützt – mit der Begründung, dass 25 Millionen Kinder nicht eingeschult werden. Vielleicht nimmt das Establishment die Herausforderung, die ihm das Schulmädchen aus Mingora ins Gesicht geschleudert hat, nun an und säubert nicht nur die Curricula der Madrassen, sondern auch der staatlichen Schulen. Dort wird im Lesebuch der Ersten Klasse der Urdu-Buchstabe K immer noch mit dem Bild einer Kalaschnikow illustriert.
Missstände beim Namen nennen
Die noch grössere Herausforderung für die politischen Eliten ist der Mut, den bereits das elfjährige Kind gezeigt hatte. Trotz dem Schulverbot der Taliban war sie 2009 weiterhin in die Schule gegangen; und deren Verbot von Schuluniformen akzeptierte sie zwar, nutzte dann aber den weit ausfächernden Hijab, um darunter Bücher nach Hause zu schmuggeln. Dieser Mut trifft das – vorwiegend männliche – Establishment umso härter, als es sich viel auf seine Macho-Qualitäten einbildet. Beim ehemaligen Cricketspieler Imran Khan, dem ehemaligen Marbella-Playboy und aufstrebenden Politiker, dauerte es drei Tage, bis er sich zu einer Stellungnahme zum Attentat bequemte; er verurteilte den Mordversuch, wagte es aber nicht, die Täter und ihre Hintermänner beim Namen zu nennen.
Dafür ist er es jetzt, der damit behaftet wird – «Taliban Khan» wird er in den den Chat Rooms des Internets bezeichnet. Das ist das Neue nach dem Mordversuch: Dinge und Personen werden beim Namen genannt. Nicht von den Parteien, denn Wahlen stehen an und jeder Wahlkampf bietet einem kompromisslosen Gegner beliebig viele Zielscheiben, umso mehr als die Täter sich gern noch selber in den Tod reissen. Aber in den Schulen, auf der Strasse, in den Medien und selbst bei Freitagsgebeten wird der TTP als Terror-Organisation bezeichnet, die zudem islamische Vorschriften verhöhnt und missachtet. Präsident Zardari legte den Finger auf die Wunde, als er in einer Ansprache sagte, dass der Grund für den Niedergang Pakistans diese Unfähigkeit sei, zu den Werten zu stehen, die die Verfassung – und der Koran – fordern.
Schlechte Voraussetzungen für eine Wende
Doch wird das Land mit seinen schwachen Institutionen, mit dem horrend schlechten Bildungsgrad und der grossen Armut fähig sein, eine Kehrtwendung zu vollziehen? Der liberale Journalist Najam Sethi ist skeptisch. Er verweist auf die körperliche Züchtigung eines Mädchens vor drei Jahren, als die Taliban in Swat noch das Sagen hatten. Die Bilder von den Peitschenhieben gingen damals um die Welt und lösten weltweit Empörung aus. Nach einigen Wochen war das Ereignis vergessen, überrollt von anderen News irgendwo auf der Welt. Er zweifelt daran, dass Regierung und Armee den Mut haben, die Infrastruktur dieses Terrors zu zerstören.
Allerdings: Diesmal hat der Protest ein Gesicht, und dass der Attentäter mitten hinein zielte, gibt dem Protest eine beklemmende Intensität. Aber der Fokus auf eine Person – und dessen Kehrseite, der Starkult – führt zu den bekannten Auswüchsen. Nur Tage nach dem Attentat solidarisierte sich Madonna mit dem jungen Mädchen aus Mingora. Bei einem Striptease erschien auf ihrem nackten Rücken ein Lichtstrahl mit dem Namen «Malala». Es war ein gefundenes Fressen für die Taliban, die das Video sofort übernahmen und das Martyrium der jungen Frau verhöhnten als Teil einer Strategie des Westens, mithilfe von Malalas Einsatz für Mädchenbildung ihre sittenlosen Werte zu verbreiten.