Das Spiel ist noch lange nicht zu Ende. Und Islamabad hat gute Karten. Der Luftangriff seitens der NATO im pakistanisch-afghanischen Grenzgebiet vom 26. November, der 24 pakistanischen Soldaten das Leben kostete, gab den Ausschlag. Die pakistanische Armee hat in heller Empörung beschlossen, sich diesmal nicht mit einer blossen Entschuldigung zufrieden zu geben. Die pakistanische Regierung stimmte zu. Wie die Dinge in Pakistan liegen, muss sie zustimmen, wenn die Armee etwas wirklich will.
Der blutige Zwischenfall kam nach einer langen Periode wachsender Spannungen zwischen den beiden "strategisch verbündeten" Staaten. Grenzzwischenfälle und Drohnenangriffe der Amerikaner, die pakistanischen Soldaten, aber auch Zivilisten das Leben kosteten, waren einer der Gründe für die wachsende Missstimmung.
Andere Gründe liegen in der doppelbödigen Politik der pakistanischen Armee und "ihrer" Regierung. Denn beide sind bemüht, ihre Verbindungen zu den Taleban und anderen islamistischen Kampfgruppen nicht abzubrechen. Auf der anderen Seite pflegen sie das Bündnis mit den Amerikanern im "Krieg gegen den Terrorismus", den diese mit einer grossen Anzahl von Soldaten und mit der Beteiligung der NATO in Afghanistan führen.
Pakistans Taleban-Politik
Diese pakistanische Doppelstrategie hat einen geheimen und einen öffentlichen Arm. Der geheime wird von ISI gesteuert, "Inter Service Intelligence", dem politischen Kopf der Armee, dem auch "seine" Regierung zu folgen hat. Der öffentliche Arm wird vom pakistanischen Aussenministerium bewegt, dem zur Zeit Frau Hina Rabbani Khar als Aussenministerin vorsteht. Ginge es allein nach dem Willen von ISI, würde die Welt allein auf den öffentlichen Arm blicken und den geheimen "ignorieren", also im Doppelsinn dieses Wortes nichts von ihm wissen, jedoch auch, falls sie etwas wissen sollte, so tun, als wüsste sie nichts.
Zur Aussenwelt zählt in erster Linie der amerikanische Verbündete, obwohl dieser seit dem Beginn des erwähnten "Kriegs gegen den Terrorismus" eine jährliche Summe von 1,4 Milliarden US-Dollar an Pakistan bezahlt, von der weitaus der grösste Teil der Armee zukommt.
Das Asyl der Taleban bei ISI
Die Grenzgebiete der pakistanischen Stammeszone und der jenseits der Grenze anschliessenden afghanischen Paschtunen-Gebiete sind jene, in denen die Doppelpolitik zu heftigen Reibungen geführt hat. Die Amerikaner wollen die "Terroristen" auf beiden Seiten der durchlässigen Gebirgsgrenze bekämpfen. Sie würden gerne der pakistanischen Armee die blutige Arbeit auf der pakistanischen Seite überlassen.
Doch im Sinne ihres doppelten Spiels bekämpft sie gelegentlich einzelne Gruppen der "Terroristen", verhandelt dann aber wieder mit ihnen. Und sie geht sogar gezielt darauf aus, mit den wichtigsten von ihnen nicht voll zu brechen, vielmehr sogar einige von ihnen zu unterstützen. Sie tut dies, weil sie nicht nur auf die Gegenwart, sondern auch auf die Zukunft schaut, das heisst auf jene Zeit, in der die Amerikaner gegangen sind und Pakistan darauf angewiesen sein wird, sich irgendwie mit den überlebenden "Terroristen" zu arrangieren. Denn diese werden nach den Amerikanern höchstwahrscheinlich Afghanistan und wohl auch Teile der pakistanischen Stammesgebiete beherrschen.
Die Bomben der NATO auf den Grenzgebieten
In den letzten Monaten haben die Amerikaner und mit ihnen das NATO-Kommando in den Grenzgebieten zunehmend zur Selbsthilfe gegriffen. Die Pakistani waren entweder nicht in der Lage oder nicht willens (vielleicht traf beides zu), die "Terroristen" davon abzuhalten, diesseits und jenseits der Grenze zu operieren, das heisst immer wieder auf der pakistanischen Seite Zuflucht zu finden, wenn ihnen der Boden auf der afghanischen Seite zu heiss wurde.
Deshalb verstärkten die Amerikaner ihre Drohnen- und Raketenschläge auf Ziele im pakistanischen Grenzgebiet, von denen sie annahmen, dass sie den "Terroristen" als Basen, Trainingslager oder Zufluchtsorte dienten. Manchmal trafen sie in der Tat Terroristen. Doch oftmals auch pakistanische Zivilisten und immer wieder auch pakistanische Soldaten und Grenzwächter. Der irrtümliche Angriff vom 26. November war nur einer von vielen vorausgegangenen, jedoch der spektakulärste und blutigste von allen.
Vertrauensverlust
Zu den Reibungspunkten gehört jedoch auch das wachsende Misstrauen beider Seiten gegeneinander. Die Amerikaner wissen immer genauer, dass ISI ein Doppelspiel mit den Taleban treibt. Es ist ein offizielles, aber recht offenliegendes Geheimnis, dass die oberste Führung der afghanischen Taleban unter Mullah Omar in Pakistan Asyl geniesst und von dort aus mit ihren Kämpfern in Afghanistan Kontakt aufrechterhält, sie befehligt, finanziert und versorgt. Das könnte sie alles nicht ohne die Mithilfe von ISI tun.
Dies ist nun schon seit zehn Jahren der Fall, nämlich seit der Zeit, in der die Amerikaner die Taleban aus Afghanistan vertrieben, ISI ihnen jedoch in Pakistan Schutz, Unterschlupf und Unterstützung gewährte.
Die Amerikaner haben das pakistanische Spiel vielleicht zu Beginn nicht völlig durchschaut. Doch über die Jahre konnten sie nicht umhin, es immer klarer zu durchblicken, und allmählich begannen sie, auch öffentlich darüber zu sprechen. Damit verbanden sie die Hoffnung, die Pakistaner so unter Druck zu setzen, dass sie ihre heimliche Unterstützung der Taleban wenigstens zum Teil aufgeben würden. ISI jedoch lässt sich nicht gern unter Druck setzen und schon gar nicht in der Öffentlichkeit. Die allmächtige, aber geheime Armeeführung ist es gewohnt, im Schatten zu agieren, und sie findet dies angemessen und richtig.
Gesichtsverlust durch die Ben-Laden-Aktion
Am schlimmsten für sie war die Schmach mit Ben Laden. Es war eine Weltsensation, als er am 2. Mai dieses Jahres von amerikanischen Sondertruppen in seiner geheimen Behausung in der pakistanischen Garnisonstadt Abbotabad erschossen wurde, ohne dass seine Beschützer von ISI darüber informiert worden waren. Ganz Pakistan lachte über die ISI-Generäle, vor denen man bisher gezittert hatte.
Es gab noch weitere Reibungspunkte. Darunter sind auch die 800 Millionen US-Dollar an Hilfsgeldern, die Pakistan nicht ausbezahlt wurden, weil der amerikanische Senat sie am 10. Juli dieses Jahres suspendierte. Dies war wahrscheinlich ein dummer Schachzug der Senatoren, denn sobald die USA Pakistan keine Hilfsgelder mehr bezahlt, sind die Pakistaner frei, sie zu erpressen. Man beisst nicht gerne die Hand, die einen ernährt. Jedoch, wenn sie einen nicht mehr ernährt, ist es anders.
ISI in der Initiative
Jedenfalls benützte ISI die Gelegenheit des Todes der 24 Soldaten, um die Initiative zu ergreifen. Die Khyber Strasse wurde für amerikanische Transporte gesperrt. Dies ist der wichtigste und der direkteste Weg in das Kriegsgebiet Afghanistan, und bisher sind die grössten Teile des Nachschubs für die amerikanischen Truppen in Afghanistan in unendlichen Lastwagenkolonnen vom Hafen Karachis aus nach Kabul gefahren. Nicht nur Munition und anderes Kriegsmaterial kommt auf diesem Wege, sondern auch Treibstoff, Esswaren und das gesamte schwere Material, das eine Armee von 160 000 Mann benötigt. Es gibt, neben dem Weg aus Iran, der den Amerikanern nicht offen steht, noch einen weiteren Zugang zum Binnenland Afghanistan. Er führt aus dem Norden über die dort angrenzenden Staaten Uzbekistan und Kirghisistan. Doch dorthin muss die Ware aus Amerika oder Europa mit Flugzeugen transportiert werden, und ausserdem dürfte es den Amerikanern und ihren Verbündeten wenig willkommen sein, ausschliesslich vom guten Willen der zentralasiatischen Staaten abhängig zu werden.
Natürlich gibt es auch direkte Lufttransporte nach den afghanischen Flugplätzen, doch die ganze Armee und auch noch einen guten Teil der afghanischen Bevölkerung über eine Luftbrücke zu versorgen, dürfte zwar möglich sein, ist aber schwierig und teuer.
Der Strassenverkehr auf der Khyberstrasse nach Kabul ist von den Pakistani zuvor schon zweimal unterbrochen worden. Das erste Mal nach dem 30. September 2010 für fast zwei Wochen, nachdem zwei pakistanische Soldaten im Grenzgebiet durch amerikanische Bomben getötet worden waren. Zum zweiten Mal für drei Tage nach dem 22. April dieses Jahres wegen Drohnen-Angriffe. Wie lange die Strasse geschlossen bleiben soll, sagen die Pakistani nicht.
Ministerpräsident Gilani erklärte in einem Interview mit BBC am vergangenen Sonntag, die Sperre könnte mehrere Wochen lang dauern. 29 unter den vielen Hundert der stillgelegten Lastwagen sind in Quetta, der Hauptstadt Belutschistans, überfallen und in Brand gesteckt worden. Die Nachschubwege ziehen auf mehreren Strassen durch verschiedene Teile von Pakistan nach Norden. Doch sie kommen alle für die Khyber-Passage zusammen, die den besten fahrbaren Weg nach Afghanistan bietet.
Weitere Druckmassnahmen Pakistans
Neben der Nachschubsperre trafen die Pakistani noch andere Massnahmen. Sie boykottierten die grosse internationale Konferenz in Bonn, bei der es um die Zukunft Afghanistans ging. Sie wiesen die Amerikaner endgültig aus der Shamsi-Luftbasis in Belutschisten aus, die in besseren Zeiten als Basis für amerikanische Drohnen diente, die über Afghanistan und in den Grenzgebieten eingesetzt wurden.
Zusätzlich wird davon gesprochen, die afghanische Grenze zu befestigen, um die Übergriffe der Amerikaner zu unterbinden. Die Pakistani denken auch laut über die Möglichkeit nach, den Amerikanern den pakistanischen Luftraum zu sperren. Dies ist vielleicht mehr eine Drohung als eine wirklich zu erwartende Massnahme. Hingegen gibt es auch neue Andeutungen bezüglich Transitsteuern, die man den Amerikanern für die Benützung der pakistanischen Häfen und Strassen auferlegen könnte. Diese Steuern müssten allerdings soviel einbringen, dass sie die amerikanischen Hilfsgelder ersetzten, die die Amerikaner ihrerseits nicht nur - wie zurzeit - teilweise suspendieren, sondern im Gegenzug auch ganz unterbinden könnten.
Was will Pakistan von den Amerikanern?
Die pakistanische Diplomatie greift ihrerseits mit Reden in das Pokerspiel von ISI ein, indem sie subtil andeutet, was in Zukunft von den Amerikanern erwartet wird. So erklärte Ministerpräsident Gilani, es bestehe eine Glaubwürdigkeitslücke (credibility gap) zwischen den NATO-Staaten und Pakistan. Beide Seiten müssten an ihrer Überwindung arbeiten. - Man muss das entziffern. Es bedeutet in Wahrheit, dass sich beide Seiten gegenseitig "Glauben zu schenken" hätten, obgleich sie wissen, dass die Pakistani ein doppeltes Spiel treiben und nun weniger als gewillt sein dürften, es aufzugeben. "Glauben schenken" kann unter diesen Umständen nur bedeuten, so zu tun, als ob man den Pakistani glaubte, und darauf zu verzichten, das Doppelspiel von ISI blosszustellen. Vielmehr soll es stillschweigend als etwas Unabwendbares hingenommen werden. – Müssen und werden die Amerikaner diese diplomatisch verzuckerte Kröte schlucken?