Die «Aquarius», mit beinahe 700 afrikanischen Flüchtlingen an Bord auf dem Weg von Libyen nach Westen, durfte nicht in einem italienischen Hafen und auch nicht vor dem Inselstaat Malta anlegen. Von Spanien erhielt sie schliesslich eine Erlaubnis, in Valencia zu landen. Die «Aquarius» ist zum Symbol geworden und weckt Erinnerungen an ein früheres Flüchtlingsschiff voller verzweifelter Menschen.
Vor genau 79 Jahren war es der deutsche Luxusdampfer «St. Louis», der zwei Monate lang durch die Ozeane irren musste. An Bord befanden sich 937 jüdische Flüchtlinge, die ihre deutsche Heimat nach der Pogromnacht des 9. November 1938 verlassen wollten und mussten. Alle besassen eine bezahlte Schiffspassage, gültige Papiere mit dem von der Schweiz ein Jahr zuvor insinuierten infamen roten «J»-Stempel und kubanische Visa. Nebst dem besassen sie nur noch 20 Reichsmark pro Kopf; sie hatten ihren gesamten Besitz den Nazis zurücklassen müssen – was von diesen zynisch «Reichsfluchtsteuer» genannt wurde. Nur die Reisespesen und die 20 Reichsmark durften daraus bezahlt werden.
Die Passagiere waren Kaufleute, Geschäftsleute, Akademiker, Ärzte, Anwälte, Viehhändler, Künstler. Viele Familien mit teils kleinen Kindern waren an Bord gekommen, im Wissen, dass sie ihre Heimat nicht wiedersehen sollten. Die meisten waren bedrückt, auch wenn viele von ihnen nach der Pogromnacht nur mit knapper Not und gegen grosse Zugeständnisse den Gefängnissen oder den bereits existierenden Konzentrationslagern auf deutschem Boden entronnen waren.
Am 13. Mai 1939 verliess die «St. Louis», ein Kreuzfahrtschiff der angesehenen deutschen Reederei Hapag, den Hamburger Hafen und nahm Kurs auf Havanna. Am Kai soll beim Loslegen der Leinen eine Kapelle «Muss i denn, muss i denn zum Städtle hinaus» gespielt haben. Die Besatzung, so wurde überiefert, behandelte die Auswanderer so höflich, als wären sie keine Flüchtlinge, sondern die üblichen Passagiere des Luxusdampfers.
Irrfahrt nach New York
Doch in Kuba war ein Sinneswandel eingetreten. Die Visa wurden für ungültig erklärt mit der fadenscheinigen Behauptung, ein Angestellter der kubanischen Gesandtschaft in Berlin habe sie auf eigene Rechnung illegal verkauft. Es gab zahlreiche Familientragödien: Am Pier von Havanna warteten Angehörige und Freunde, denen schon früher die Flucht in die Karibik gelungen war und die in Kuba Asyl erhalten hatten, bis ihre Ausreise in die USA zustande käme. Auch den Passagieren aus Deutschland war das Gleiche versprochen worden.
Die «St. Louis» musste nach mehreren Tagen trotz zahlloser Bittgänge von Kapitän Gustav Schröder und vielen Telegrammen den Anker lichten. Nun nahm Schröder Kurs auf die USA. Er plante, bei Nacht seine Passagiere mit den Rettungsbooten an der nahe gelegenen Küste von Florida an Land zu bringen. Doch die US-Küstenwache vereitelte diesen kühnen Plan. Mit Schnellbooten und Flugzeugen machte sie Jagd auf die «St. Louis».
In New York angekommen, ereilte das vernichtende Urteil von Präsident Franklin Delano Roosevelt die verzweifelnden Flüchtlinge: Ausserhalb des Einwanderungskontingents der USA durfte trotz zahlreichen Interventionen niemand an Land gehen. Der Entscheid war unmenschlich. Die Spekulationen und Begründungen füllen Bücher. Es ist bekannt, dass Roosevelt Berater und Minister um sich geschart hatte, die teilweise nicht vor Antisemitismus gefeit waren. Ausserdem wollte Roosevelt damals möglicherweise bereits die Wahl von 1940 für seine dritte Amtszeit vorbereiten und keine Risiken eingehen. (Er ist der einzige US-Präsident, der – zwar in gefahrvollen Zeiten – nicht weniger als viermal statt nur zweimal gewählt wurde.)
Nur scheinbares Happy End in Antwerpen
Nun musste Kapitän Schröder weisungsgemäss den Befehl seiner bisher kooperativen Reederei befolgen und nach Europa zurückkehren. Zahlreiche Passagiere, vereint in einem Schiffskomitee, erwogen einen Massenselbstmord durch einen Sprung in die Nordsee – alles besser als der sichere Tod in einem deutschen Konzentrationslager, schrieben sie. Man werde nach der Landung in einem deutschen Hafen 100 leere Kabinen vorfinden. Doch unterwegs nach Deutschland kam die erlösende Nachricht: Belgien, die Niederlande, Frankreich und Grossbritannien waren dank der Fürsprache des amerikanisch-jüdischen Hilfswerks «Joint» bereit, die jüdischen Flüchtlinge der «St. Louis» aufzunehmen.
Am 17. Juni 1939 durfte das Flüchtlingsschiff nach zwei Monaten demütigender Irrfahrt in Antwerpen anlegen und die Passagiere absetzen. Ein Viertel der in Kontinentaleuropa aufgenommenen deutschen Schiffspassagiere wurde später in Vernichtungslagern ermordet, nachdem die Nazi-Truppen im Mai 1940 die drei Länder Frankreich, Belgien und die Niederlande überfallen und besetzt hatten. Dabei waren ihnen zahlreiche Juden in die Hände gefallen.
Die 1928 von Stapel gelassene «St. Louis» wurde 1952 abgewrackt. Ihr mutiger Kapitän (verstorben 1959 mit 71 Jahren) wurde vielfach geehrt. 1957 erhielt Kapitän Schröder «für Verdienste um Volk und Land bei der Rettung von Emigranten» das deutsche Bundesverdienstkreuz am Bande. Der Staat Israel nahm ihn postum in die Reihen der «Gerechten»auf. Hamburg ehrte ihn durch eine Strasse, eine Gedenktafel am Hafen und einen «Kapitän-Schröder-Park».
1976 drehte Hollywood einen packenden, mit vielen Stars besetzten Spielfilm über die dramatische Irrfahrt des Flüchtlingsschiffs. Obwohl für mehrere Oscars nominiert, erhielt der Film diese Auszeichnung nicht, wohl, weil die USA dabei keine gute Figur machten. Kapitän Schröder wurde durch Max von Sydow verkörpert.
Traumatisiertes Emigrantenleben in der Schweiz
Mindestens eine der Familien, die auf der «St. Louis» ihr Leben retten wollten, fand keinen Unterschlupf in den vier europäischen Ländern. Für ein Ehepaar mit einer kleinen Tochter war die Flucht nicht zu Ende. Sie fand den Weg in die Schweiz. Da es zur grausamen Methode der Schweizer Behörden gehörte, Familien grundsätzlich auseinanderzureissen, damit sie nicht beginnen konnten, sich hier wohlzufühlen – die Männer wurden hier, die Frauen dort und die Kinder in Pflegefamilien interniert –, gab es erst nach Kriegsende ein Wiedersehen.
Doch die Familie blieb trotz Einbürgerung bis zum Schluss schwer traumatisiert. Alle Dokumente und Fotos, die an das vorherige Leben und gar an die «St. Louis» erinnerten, wurden vernichtet, damit sie niemand finden und sie als Flüchtlinge identifizieren konnte.
Die Tochter erzählte mir in den 1990er Jahren einen Teil ihrer schrecklichen Kindheit und Jugend: Die Familie wohnte im Erdgeschoss. Auf dem Heimweg von der Schule und unterwegs zur Haustür klopfte das Mädchen ans Küchenfenster, um sich bei ihrer Mutter spielerisch anzukündigen. Doch die Mutter erzählte ihr viel später, dass sie zweimal täglich durch dieses Klopfen in Schockstarre verfiel. Jedes Mal dachte sie, dass man sie jetzt holen und deportieren würde.
Die Tochter durfte niemandem erzählen, wer sie war, dass sie jüdische Flüchtlinge gewesen seien. Deshalb hatte sie nie Freundinnen oder gar Freunde, deshalb heiratete sie nie, ging nach der Arbeit sofort nach Hause und igelte sich ein.
Die «Aquarius» von 2018 und die «St. Louis» von 1939 können und sollen nicht verglichen werden. Aber die Erinnerung zeigt, wie sehr es gegen die elementarsten Menschenrechte verstösst, wenn Flüchtlinge zum Spielball von Politikern mit ihren Egos werden. Das Schicksal der «Aquarius» zeigt zudem deutlich, dass Europa und auch andere Kontinente rasch vorwärtsmachen müssen gegen die brutale Flüchtlingsindustrie, mit anständigen Programmen für Flüchtlinge und Asylsuchende oder aber für deren menschenwürdigen Verbleib in der Heimat.
Was die beiden Flüchtlingsschiffe verbindet, ist ein Ozean aus Tränen.
Eine kürzere Version dieses Textes publizierte die Autorin am 15. Juni 2018 im jüdischen Wochenmagazin «Tachles».